• Politik
  • Focus: Anti-Castor-Proteste

Wie beim Picknick auf den Gleisen

Entlang der Strecke sorgten Blockaden mehrmals für Verzögerungen

  • Andreas Schug, Berg und Hans-Gerd Öfinger, Darmstadt
  • Lesedauer: 5 Min.
Der Protest gegen den Castor-Transport am Wochenende beschränkte sich nicht aufs Wendland. Impressionen von Aktionen in Rheinland-Pfalz und Hessen.

»Das ist ein Scheiß, was die hier machen!«, flucht eine resolute 50-Jährige. Es ist Samstag, kurz nach Elf. Ein Lindwurm mit gut 1500 Demonstranten zieht sich durch das Dorf Berg in Rheinland-Pfalz. Fünf junge Leute tragen ein Transparent: »Atommafia zerschlagen«, in der Nähe singt eine Gruppe: »Wehrt euch, leistet Widerstand ...« Etwas weiter steckt ein Traktor mit einem Anhänger voller Kuhmist fest. Ein Atomgegner hat gleich eine Aufgabe für die beiden Landwirte: »Auf Männer, bringst an de Bahnhof, ablade!«, ruft er im Dialekt. Die nehmen es gelassen.

Friedlicher ziviler Ungehorsam

Berg liegt trotz des Namens auf flachem Terrain in der rheinischen Tiefebene auf der Höhe von Karlsruhe. Rund 2500 Einwohner leben hier kurz vor der Grenze zu Frankreich. Vor zwei Jahren hatte es dort zwölf Stunden gedauert, bis der Castor-Transport weiterfahren konnte, weil sich Aktivisten mit einem Betonklotz ans Gleisbett gekettet hatten. Diesmal hatten 50 Gruppen und 267 Einzelpersonen zum friedlichen Ungehorsam per Sitzblockade aufgerufen. Die Initiativen verkündeten im Internet, die Castoren würden nicht durchkommen. Das ist kühn, bei mehr als 1000 Polizisten auf nur elf Kilometern zwischen dem französischen Lauterbourg und Wörth am Rhein. Schon am Vormittag war eine Blockade mit zwei Greenpeace-Aktivisten, die sich an die Gleise gekettet hatten, nahe der Grenze geräumt worden.

»Noch klappt hier bei uns alles«, funkt ein Polizist in Berg um 11.35 Uhr. Er sperrt mit einer Hand voll Kollegen die Straße zum Bahnhof ab. Die erste Hälfte der Demo ist schon vorbei, dann geht es ganz schnell. Der Rest des Lindwurms biegt geschlossen nach links ab zum Bahnübergang. Die Polizei, machtlos! Auf den Gleisen strömen Hunderte am Bahnsteig vorbei Richtung Grenze. Es braucht eine gute Viertelstunde, bis sich an die Tausend Menschen festgesetzt haben, wo der Castor-Zug fahren soll.

Ein Ehepaar beobachtet die Szenerie vom Bahnsteig aus. »Das geht hier seit zehn Jahre so, aber so was hamn wir noch net erlebt«, sagt die Frau. Die Polizei sei seit Montag vor Ort, und die Nacht zuvor konnte sie wegen der Hubschrauber nicht richtig schlafen.

Die Stimmung am Gleis ist gelassen wie beim Picknick. Ordnungshüter rücken nach. Zu Wenige. Mindestens sechs Mal fordert ein Polizeisprecher die Sitzenden auf, das Versammlungs- und Demonstrationsverbot einzuhalten, das der Landkreis Germersheim je 50 Meter neben der einspurigen Strecke verfügt hat: »Die Versammlung ist aufgelöst!« Bei jedem, der freiwillig geht, werde die Ordnungswidrigkeit nicht verfolgt. Die Masche klappt nicht.

Polizisten tragen Blockierer weg

In Frankreich steht der Castortransport seit mindestens 13 Uhr vor dem Abzweig Richtung Kehl. Fährt er wie vorbereitet nach Norden Richtung Berg, oder südlich bei Kehl über die Grenze? Ab 13:25 Uhr wir die Lage klarer, die Beamten tragen bei Berg einige Blockierer weg, stellen die Personalien fest und machen Fotos. Eine halbe Stunde später ziehen sich die Einheiten zu ihren Fahrzeugen zurück, auf der Schiene bricht Jubel aus. Ein Beamter meint im Vorbeigehen: »Man muss das sportlich sehen. So lange es friedlich bleibt ...« Bald stellt sich heraus, der Atomtransport ist nach Kehl in Baden-Württemberg umgeleitet worden, wo er gegen 14 Uhr die Grenze überquert – und bis 18 Uhr stehen bleibt.

Viele Demonstranten bleiben in Berg – sicher ist sicher – und feiern. Andreas Raschke von den Südwestdeutschen Anti-Atom-Initiativen sagt, zum ersten Mal überhaupt habe ein Castor-Zug aufgrund der Proteste seine Fahrtroute ändern müssen.

Mahnwache wurde vorverlegt

Einige Stunden später im südhessischen Darmstadt: Um auf Nummer sicher zu gehen und die Durchfahrt des Sonderzuges nicht zu verpassen, haben die Veranstalter den Beginn ihrer Mahnwache kurzfristig um eine Stunde vorverlegt. Doch die Sorge ist unbegründet. Als die Mahnwache mit Lautsprecherwagen und geräumigen Verpflegungszelten gegen 18 Uhr am Bahnhof Darmstadt-Kranichstein beginnt, setzt sich der Zug gerade erst 200 Kilometer südlich im Grenzbahnhof Kehl in Bewegung.

Die Teilnehmerzahl an dem von Polizeikräften abgeriegelten Bahnübergang unweit des Eisenbahnmuseums Kranichstein schwillt im Laufe des Abends auf 500 an. Es sind Menschen im Alter von acht Monaten bis 80 Jahren, Attac- und Umweltaktivisten aus Frankfurt und Wiesbaden, Mitglieder von SPD und Linkspartei. Etliche fehlen, weil sie anderswo entlang der Strecke sind oder im Wendland. Sie alle machen sich Sorgen wegen des Atommülls und der Zukunft der Kinder, warnen vor der »tickenden Zeitbombe« im nahen, betagten Kraftwerk Biblis am Rhein. Seit der unerwartet großen Demonstration im vergangen April an dem AKW-Standort und der Laufzeitverlängerung fühlt sich die regionale Bewegung im Aufwind wie seit den 80er Jahren nicht mehr.

»Früher waren wir alle jung, heute sind bei den Demos Junge und Alte«, freut sich Mit-Organisator Georg Dombrowe von der Darmstädter Initiative »Atomkraftende«. Seine mittlerweile erwachsene Tochter Lisa, die schon als Kind die Eltern zu Demos begleitete, protestiert an diesem Abend ebenso mit wie zahlreiche Teenager aus der Umgebung. Als Jugendlicher war Dombrowe in den 70er Jahren mit dem Mofa zu Protestaktionen am Atomkraftwerk Biblis gefahren. Seit der Katastrophe von Tschernobyl 1986 ist er vor Ort ein Motor der Anti-AKW-Bewegung. Mehrfach hat er dazu beigetragen, dass in Darmstadt Castor-Züge wenigstens vorübergehend außerplanmäßig anhalten mussten.

Über Handy lässt sich Dombrowe von den »Streckenmeldern« in Nordbaden und Südhessen über die aktuelle Route informieren. »Er kommt in gut einer Stunde hier vorbei«, teilt er um 19.55 Uhr den Teilnehmern mit. Wenig später kreisen Hubschrauber über dem Stadtgebiet. Die Polizei verstärkt ihre Präsenz an den Gleisen. Es fällt auf, dass keine Regionalbahn und kein Güterzug mehr vorbeifährt. Dies steigert die Spannung der Menschen, die im einsetzenden Nieselregen geduldig und gut gelaunt ausharren, bis der Zug mit den vier dröhnenden Dieselloks gegen 21.38 Uhr unter Buhrufen und Pfiffen den Bahnhof passiert.

»Eine skurrile Szene« in der Dunkelheit

»Dies wird nicht die letzte Protestaktion sein«, prophezeit der SPD-Landtagsabgeordnete Michael Siebel und plädiert für die Verzahnung von parlamentarischer und außerparlamentarischer Arbeit. Ganz in diesem Sinne und um sich dem Castor nicht nur verbal in den Weg zu stellen, hat sich Janine Wissler, Vorsitzende der Linksfraktion in Wiesbaden, zusammen mit anderen in der Dunkelheit direkt an die Gleisanlagen begeben. Wissler und ihre Mitstreiter werden über eine Stunde lang von Polizeibeamten festgehalten, bis sie wieder ihre Personalausweise ausgehändigt bekommen. »Eine skurrile Szene«, zeigt sich ihr Fraktionskollege Hermann Schaus empört: »Die lassen die Leute bewusst im Regen stehen, um Macht zu demonstrieren.« Und für Wissler steht fest: »Der gefährlichste Eingriff in den Eisenbahnverkehr ist der Castor-Transport selbst.«

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