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Warum Mitleid keine Grenzen haben darf

Über die Dialektik der alltäglichen Gewalt gegen Tiere und Menschen

  • Ingolf Bossenz
  • Lesedauer: 3 Min.

Man darf sich darüber wundern«, konstatierte der Wiener Schriftsteller und Religionswissenschaftler Adolf Holl, »dass die modernen Gesellschaftswissenschaften mit Vorliebe die Erforschung des Bösen betreiben. Das Gute scheint sie kaum zu interessieren.« Das Zitat stammt aus Holls Buch »Mitleid – Plädoyer für ein unzeitgemäßes Gefühl«.

Dass sich an dieser Unzeitgemäßheit während der zweieinhalb Dezennien seit Erscheinen des Hollschen Werkes offenbar wenig geändert hat, zeigt Astrid Kaplan in ebenso ausführlicher, ja geradezu erschöpfender und zugleich erschreckender Weise.

Auf über 250 Seiten breitet die österreichische Psychologin ein wahres Pandämonium aus, das in allen Bereichen unserer Gesellschaft präsent ist. Doch diese von Holl beklagte »Erforschung des Bösen« und ihre schonungslose Darstellung ist zweifellos unumgänglich, wenn man überzeugt ist – wie es im Untertitel von Kaplans Buch heißt – »von der Notwendigkeit eines Quantensprungs des Mitgefühls«. Das Buch handelt von Gewalt in dreifacher Hinsicht: Gewalt gegenüber Tieren – Gewalt gegenüber Menschen – Zusammenhang zwischen diesen beiden Formen menschlicher Gewalt. Dass Astrid Kaplan mit der Darstellung der Gewalt gegenüber Tieren beginnt, ist konsequent. Nicht nur, weil die Autorin eine engagierte Tierrechtlerin ist, sondern vor allem, weil die Gewalt gegen Tiere in der umfangreichen Literatur über Gewalt gegen Menschen meist ausgespart bleibt. Dabei sind der dialektische Zusammenhang und die Wechselwirkung unübersehbar, was Kaplan an zahlreichen Daten und Beispielen aus Wissenschaft, Geschichte und Kultur verdeutlicht.

Dass dieser Zusammenhang im öffentlichen Bewusstsein lieber verdrängt und verleugnet wird, liegt indes ebenso auf der Hand: Schließlich geht es nicht nur um Tierquälerei, die sich durchaus signifikant im innerfamiliären Bereich (Haustiere) abspielt und dort mit häuslich-familiärer Gewalt korreliert. Es geht vor allem um strukturelle Gewalt gegen Millionen und Milliarden Tiere – eine Gewalt, die aufgrund ihrer Legalität und Alltäglichkeit zur Abstumpfung führt, nicht nur gegenüber Tieren, sondern auch gegenüber Menschen. Leid und Elend der Massentierhaltung, Tiertransporte, Fließbandschlachtung etc. inkarnieren sich in der modernen Gesellschaft in den Auslagen der Fleischtheken und auf den Tellern der »Verbraucher«. Eine Anonymisierung, die Gleichgültigkeit erzeugt und die Akzeptanz von Gewalt fördert. So ist es kein Zufall, dass in Astrid Kaplans Liste von Lösungsansätzen des Gewaltproblems das Plädoyer für den Vegetarismus an erster Stelle steht. Denn worum es ihr geht, ist nicht weniger als grenzenloses Mitleid. Mitleid, das die Demarkation der eigenen Spezies überschreitet.

Für Arthur Schopenhauer (1788-1860) war »grenzenloses Mitleid mit allen lebenden Wesen ... der festeste und sicherste Bürge für das sittliche Wohlverhalten«. Der oft als »Philosoph des Pessimismus« geschmähte Denker prägte damit eine zentrale Kategorie des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Das macht Astrid Kaplan nachdrücklich klar, wenn sie betont, dass Mitleid/Mitgefühl »die einzige Gegenkraft gegen grausames, gewalttätiges Verhalten zu sein« scheint. Mit dieser Kraft muss endlich auch jener moralfreie Raum besetzt werden, der in Bezug auf Tiere von der Mehrheit der Gesellschaft akzeptiert wird.

Astrid Kaplan: Solange es Schlachthäuser gibt, wird es Schlachtfelder geben. Von der Notwendigkeit eines Quantensprungs des Mitgefühls. Trafo Verlag. 283 S., br., 29,80 €

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