Zum Beispiel

Pavel Kohout über sein Leben

  • Eberhard Reimann
  • Lesedauer: 5 Min.
»Seelenverwandte« – links Vaclav Havel, rechts Pavel Kohout, in der Mitte dessen Frau Jelena
»Seelenverwandte« – links Vaclav Havel, rechts Pavel Kohout, in der Mitte dessen Frau Jelena

Menschen verbinden sich nicht selten mit Bildern: mit Erdachtem, über Erzähltes oder Gelesenes Vermitteltem. Und hinzu kommt mitunter gemeinsam Erlebtes, Verbürgtes. Das, was hätte so sein können, und das, was so war, bestimmt dann zusammen die Wahrnehmung.

Pavel Kohout verbindet sich für mich mit Grenzübertritten. Das eine Bild, das vermittelte, stammt aus dem Jahr 1979. In einer Nacht an einer tschechoslowakisch-österreichischen Grenzstation werden er und seine Frau Jelena von Grenzern seines Heimatlandes an Armen und Beinen aus der Heimat zurück in die Fremde getragen. Ausgebürgert. Es war nicht so, denn sie fuhren mit dem Auto. Aber das Bild passt, weil die Umstände stimmen.

Das andere Bild: 1991, im Mai, nun am deutsch-tschechischen Grenzübergang in Cinovec/Zinnwald, in meinem Auto, nach seiner ersten Lesung in der ehemaligen DDR, in Jena, Kohout nun schon mehr als ein Jahrzehnt mit einem österreichischen Pass reisend. Die Weiterfahrt in Richtung Prag wird erst nach ausgiebiger, zeitraubender Prüfung einer »Willkommensbescheinigung« seines Freundes Vaclav Havel, damals Präsident, gestattet. Das war so. Das Bild passt.

Vor und nach diesen beiden Bildern liegen immer wieder (Grenz-) Übertritte im Leben des inzwischen fast 83-Jährigen. Der vom stalinistischen Barden zum Mitinitiator der Charta 77 wurde, einer Bewegung, welche die traumatische Starre des Landes nach dem Einmarsch der Warschauer Pakt-Truppen 1968 zu überwinden suchte. Zum Beispiel. Oder der sich bemühte, dem Freund Vaclav Havel nach dessen Einzug ins Präsidentenamt auf der Prager Burg hilfreiche Empfehlungen für das Amt zu geben. Dabei musste er zur Kenntnis nehmen, dass sich kaum nach dem Verschwinden des alten Beamtenapparates in Windeseile ein neuer etablierte, der die erworbenen Pfründe zu sichern suchte und Dazugekommene nicht zuließ. Auch Demokratie hat Schwachpunkte, Menschen. Zum Beispiel.

Die demütigende Zuweisung 1990 eines Miniappartements in einer ehemaligen »Absteige des Innenministeriums« in Prag 6 statt Rückgabe seiner mit der Ausbürgerung konfiszierten Wohnung am Burgplatz. Zum Beispiel. Oder seine Bemühungen um die Wiederbelebung des traditionsreichen deutschen Theaters in Prag, wo er resignierend begreifen muss, dass die Kulturstiftung der Deutschen Bank auch nur nach Gutdünken entscheidet. Die Idee scheitert nach kurzer Spielzeit. Zum Beispiel. Oder die heutigen Begegnungen mit seinem langjährigen Freund und »Seelenbruder« Vaclav Havel in Theatern, wo man sich freundlich begrüßt und kurz unterhält – »über nichts«. Zum Beispiel. Für mich der am meisten betroffen machende Über-Tritt: der in die Belanglosigkeit einer Beziehung. Mit diesem »über nichts« endet die Autobiografie Pavel Kohouts.

Wer sein Werk verfolgt hat, wird manches aus früheren Büchern wiederfinden. In den großen Zusammenhang des gelebten Lebens gestellt, erhalten Szenen in Sazava, zum Beispiel, dem früheren und heutigen Refugium des Dramatikers, wie er sich im Buch nennt (Schwejk, lässt grüßen!), eine ganz andere Wichtung, weil sich aus der Draufsicht das Resümee verändert. Erfahrung macht klüger, hofft man jedenfalls.

Das Leben des Theatermannes, Romanciers und Essayisten ist voll von Anekdoten und skurrilen Situationen, die mehr als 65 Jahre mitteleuropäischer Spannung und Entspannung reflektieren. Sein Leben ist das beste Beispiel dafür.

Bei manchem, was in diesem Buch zu lesen ist, fühlt man sich an Havemann und Biermann erinnert, an Grünheide bei Berlin und die Hannoversche Straße in Berlin, mit all den schlimmen Situationen und der Ausbürgerung. Doch ein großer Unterschied bleibt: Kohout unterschlägt nicht die Geselligkeit im Lebens der Chartisten, zum Beispiel. In der böhmischen Provinz, aber auch in Prag, mit Bier und Knödeln und familiären Konflikten, ein Sozialismus mit menschlichem Antlitz eben.

Und doch bleiben am Ende für den mit den Umständen Vertrauten Fragen. Warum auch zwanzig Jahre nach dem Wandel nicht einmal über die fremd-staatliche und institutionelle Einflussnahme, die den Wandel zweifelsohne auch unterstützt hat, berichtet wird? Zum Beispiel. Die Offenheit, mit der auch hier wieder über die Verstrickungen Milan Kunderas, des Autor des großen Romans von der »Unerträglichen Leichtigkeit des Seins«, mit dem Geheimdienst der CSSR berichtet wird, die Erwähnung voluminöser Spitzelakten, sollte allmählich auch für die andere Seite gelten. Woher kam Hilfe und Unterstützung, zum Beispiel. Und: Wer waren die Helfer und Unterstützer? Die Enkelinnen und Enkel, denen Pavel Kohout seine Erinnerungen »in spe« widmet, werden nicht verstehen können, »was wir nicht verstanden haben«. Denn sie können nicht aufklären. Aber wir haben verstanden, weil wir gehandelt haben. Und wir haben gehandelt, weil wir verstanden haben. Der eine so, der andere so. Ganz gewiss auch mit Umwegen, Irrungen.

Niemand wird vom Sockel gestürzt, wenn er heute endlich Hintergründe offenlegt, wenn er den selbst- oder fremdverordneten Nebel lichtet. Doch die »Harmonie der Gegensätze«, wie der dichtende Politiker Jiri Grusa die »Erkenntnisse« dieses Buches nennt, würde um Bekenntnisse bereichert. Aber so bleiben Dissonanzen, ausgelöst durch vorenthaltene Töne. Zum Beispiel. Oder: Das Gesamtbild will sich nicht einstellen, jedenfalls nicht das reale.

Der Epilog dieser Autobiografie endet mit den Worten: »Fortsetzung folgt«. Ich warte darauf, und hilfreich wäre dann auch die Beantwortung der Fragen. Die Zeit ist reif dafür. Viel Zeit bleibt nicht mehr. Aus Lebenszeitgründen derer, die sie beantworten könnten. Zum Beispiel.

Pavel Kohout: Mein tolles Leben mit Hitler, Stalin und Havel. Autobiografie. Osburg Verlag. 565 S., geb., 26,90 €.

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