Gemeinsamkeit

Der Jüdische Kulturverein Berlin

  • Martin Adler
  • Lesedauer: 3 Min.

Der Titel »WIR« für die vorgestellte Bilanz über zwanzig Jahre Jüdischer Kulturverein in Berlin (JKV) lässt keinen Zweifel über dessen Grundmaxime: Gemeinsamkeit. Die gesellschaftliche Öffentlichkeit, weit über Berlin hinaus, hat in den vergangenen beiden Jahrzehnten den JKV vor allem in dreierlei Hinsicht wahrgenommen.

Erstens. In diesem Verein war für Juden Gelegenheit zur Selbstfindung eigener, verschütteter Identität in der Gemeinschaft Gleichbetroffener verschiedener Generationen gegeben, insbesondere von Frauen und Männern, die in der DDR gelebt hatten. Diese Besonderheit, man könnte auch sagen: dieses Alleinstellungsmerkmal, verdient Anerkennung und Würdigung. Dokumentiert wird, dass der Umgang mit jüdischen Gebräuchen und religiösen Vorschriften im Verein regelrecht erlernt und kontinuierlich gepflegt wurde. Rabbiner und andere Sachverständige haben den Verein dabei nachhaltig unterstützt und begleitet.

Die langjährige Vereinsvorsitzende Irene Runge beschreibt die Anfänge: »Mit dem endgültigen Ende der DDR war das Lebenswerk vieler jüdischer Genossen aus den Angeln geraten. Nicht nur sie, durch die sozialistische Idee geprägt, waren verzweifelt, enttäuscht, wütend oder traurig, von der Dynamik des Ab- und Umbruchs irritiert. Der Verlust von Arbeitsplätzen deutete sich an, das soziale Netz zerriss, gegen alte Gewissheiten begann der ideologische Kampf. Verlässlicher Zuspruch wurde rar, doch der Jüdische Kulturverein versprach Sachdebatten und Streitgespräche. Hier wurde es möglich, unter Seines- und Ihresgleichen auch über schmerzhafte Erinnerungen, über die Deportation von Eltern und Verwandten, Kindertransporte, das Überleben schlechthin, die Fehler der Partei, Verrat, Flucht, Illegalität, Angst und über den nie zugegebenen Zweifel an der Richtigkeit einer Rückkehr nach Deutschland nach Exil oder Lager zu sprechen ... Einst meinten die inzwischen Altgewordenen, das Judentum verlassen zu haben, nun waren sie die Letzten, die es kannten und erzählen konnten, wie es vor 1933 war, jüdisch zu sein, danach, bis 1945 und weiter.«

Zweitens. Der Jüdische Kulturverein in Berlin hat sich große Verdienste um sowjetische und postsowjetische Einwanderer erworben. Seine spezielle Integrationsarbeit für Ältere könnte als Beispiel dienen, wie man in Deutschland generell Älteren einen sinnvollen Lebensinhalt erhält, bezahlte wie ehrenamtliche Arbeit darin eingeschlossen. Igor Chalmiev, im April 1992 aus Baku (Aserbaidschan) gekommen, gab seinem Bericht über diese Seite der Vereinstätigkeit die Überschrift »Neue Heimatinsel Berlin«. Das heute viel strapazierte Wort von der Integration andernorts Geborener in neue Verhältnisse bestimmte die Tätigkeit des Vereins wesentlich mit. Seine Stimme war unüberhörbar, manchmal aus gegebenem Anlass auch laut und kritisch, wenn Behördenvorschriften oder Unverständnis von Mitmenschen, die eigentlich helfen wollten, zu überwinden waren.

Drittens. Nicht-Juden waren in den Räumen des Jüdische Kulturvereins immer willkommen. Und sie kamen zahlreich, erlebten und verlebten interessante, erkenntnisreiche Stunden hier.

Es ist schade, dass es diesen Verein nicht mehr gibt. Er teilte das Schicksal vieler anderer sozio-kultureller Projekte, die im Osten Deutschlands ab 1989 neu entstanden waren. Sogenannte Sachzwänge versiegender staatlicher Unterstützung nötigten zur schmerzhaften Selbstauflösung. Geblieben ist dieses Büchlein gleichsam als ein Vermächtnis. Eine Chronik von zwanzig Jahren Vereinsleben lässt Themenbreite und Vielfalt erkennen.

Ralf Bachmann/Irene Runge: WIR. Der Jüdische Kulturverein Berlin. Wellhöfer Verlag, Mannheim. 160 S., br., 10 €; auch über den Verlag erhältlich: Telefonnummer: 0621-7188167 oder per E-Mail: info@wellhoefer-verlag.de

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