Ein Querdenker

Rainer Thiel resümiert sein Leben

  • Siegfried Prokop
  • Lesedauer: 3 Min.

Der in Chemnitz geborene Rainer Thiel hebt als Glück hervor, dass ihm seine Eltern das Rückgrat nicht verbogen haben. Der Vater zog es im ersten Jahr des Friedens vor, seinen Handwerksbetrieb aufzugeben und bei einem Freund als Geselle zu arbeiten. Thiel wurde Lehrling, als solcher hatte er seinem Vater als Handlanger beizustehen. Den Jungen interessierten aber viel mehr die Veranstaltungen des im Juni 1945 gegründeten Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands. Thiel besuchte die Volkshochschule, die er als »Universität im Kleinen« erlebte. 1949 bestand er auf einem Chemnitzer Gymnasium das Abitur mit vorwiegend sehr guten Ergebnissen. Auf Anraten der Mutter beteiligte er sich am Talsperrenbau in Sosa, wo er unter dem Einfluss des Altkommunisten Walter Berthold Kandidat der SED wurde. Danach studierte er zwei Jahre Mathematik in Jena, wurde von Sektierern politisch denunziert und musste »zur Bewährung« in die Produktion. Auch wenn ihm Unrecht angetan wurde, so wurde er deshalb kein Dissident.

Mit Hilfe von Georg Klaus fand er im Herbst 1953 in Berlin zum Studium der Philosophie. Dort fiel ihm auf, dass seine Dozenten »überwiegend Autodidakten« waren. Zum ersten Höhepunkt seines Lebens gestaltete sich seine von Klaus betreute Diplomarbeit »Philosophische Probleme der speziellen Relativitätstheorie«, die ein Volltreffer gegen gängige Dogmen wurde, weshalb sie Bodo Uhse vollständig im »Aufbau« veröffentlichte. Am liebsten wäre er nun Assistent bei Klaus geworden, fand aber nur eine Stelle im Institut für Marxismus-Leninismus, wo er Seminare in Physik und Mathematik abzuhalten hatte. In der Parteigrundorganisation Mathematik/Physik traf er auf Gesprächspartner, die wenig später Koryphäen für Algebra, Wahrscheinlichkeitstheorie, für mathematische Logik und für Analysis und Statistik wurden.

Thiel selbst kamen im Leben so manches Mal Zufälle zu Hilfe. Als eine Abteilung Philosophische Probleme der Naturwissenschaft geschaffen wurde, bot man ihm eine Aspirantur an. Sein Wunschthema »Philosophische Fragen der Kybernetik« wurde genehmigt. Dann brauchte Klaus, der an die Akademie der Wissenschaften berufen wurde, 1959 einen Sekretär für die Kybernetik-Kommission. Die in der DDR Anfang der 60er Jahre beginnende Wirtschaftsreform stellte an diese vielfältige Anforderungen.

Mit Beginn der Ära Honecker wurde auch das Ende der Wirtschaftsreform besiegelt. Der am Institut für Hochschulbildung tätige Thiel musste sich erneut beruflich neu orientieren. Nicht das das letzte Mal in seinem Leben. Nach der Wende hat auch der Mitbegründer der Erfinderschulen in der DDR die Erfahrung machen müssen, dass sein Wissen plötzlich nicht mehr gefragt war.

Thiel gab jedoch nicht auf. Er schrieb solche viel beachteten Bücher wie »Marx und Moritz« und beteiligte sich an Protesten gegen die Schließung von Schulen in Brandenburg. Er ist aktiv in Attac tätig und einer der Initiatoren der seit dem 24. Januar dieses Jahres vor dem Berliner Roten Rathaus jeden Montag (18 Uhr) stattfindenden »Unabhängigen Montagsdemonstrationen für ein menschenwürdiges Leben und gegen Sozialabbau«.

Rainer Thiel: Neugier – Liebe – Revolution. Mein Leben 1930 - 2010. Verlag am Park. Berlin. 379 S., br., 22,90 €. Foto: Buchcover

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal