Sich an den Haaren selbst aufrichten

Hommage und Liebeserklärung zugleich: »Pina« von Wim Wenders

  • Volkmar Draeger
  • Lesedauer: 4 Min.

Es hatte ein Film mit Pina Bausch werden sollen. Wim Wenders kannte sie, seit ihn ihre Stücke 1985 auf der Biennale Venedig nach eigener Aussage wie ein Donnerschlag trafen. Erst 2009 kam es zu Absprachen, und als der Dreh beginnen konnte, war die Choreografin gerade verstorben. Ihre Tänzer, Künstler der raren Güte, ermutigten den Regisseur, den Film dennoch in Angriff zu nehmen: als Hommage an eine einzigartige Persönlichkeit des internationalen Kulturlebens, deren künstlerischer Nachlass schon jetzt zum bewahrenswerten Erbe rechnet. So wurde das Konzept geändert, und herausgekommen ist, was auf der Berlinale 2011 mit viel Applaus bedacht wurde.

»Pina« zeigt nun nicht Bauschs Blick auf die Welt, sondern, wie Wenders in einem Interview sagt, den Blick ihrer Tänzer auf sie als Künstlerin, Ensembleleiterin, Talentförderin. Solch eine Verantwortung, fügt Wenders an, habe er noch bei keinem anderen Projekt gespürt. Gelungen ist ihm, dem gerecht zu werden, auch durch Einsatz des 3D-Aufnahmeverfahrens, das die Choreografien unübertroffen plastisch in der Raumschichtung von der Leinwand herunter wirken lässt.

Auf drei Säulen ruht Wenders' Pina-Porträt. Zum einen zeigt er Ausschnitte aus wichtigen Tanztheaterstücken, konzentriert sich klug auf vier aus einem gewaltigen Oeuvre. Zum anderen kommt in wenigen Archivaufnahmen Bausch selbst zu Wort und Tat: beim Gespräch, im Probensaal, als Tänzerin auf der Bühne und dort von tief berührendem Ausdruck. Sie habe einmal, bekennt sie, das Gefühl verloren, das sie brauchte, um in »Café Müller« ihr Solo mit geschlossenen Augen tanzen zu können. Da sei ihr aufgefallen, dass es einen Unterschied mache, ob sie mit jenen geschlossenen Augen nach unten oder geradeaus blicke. So gründlich, so sensibel auch arbeitete und kreierte sie, so besessen, das treffende Bild, die gültige Aussage zu finden. Es sind ihre Tänzer, die das bestätigen und damit die dritte, die wesentliche Säule des Films ausmachen.

Er beginnt mit dem gleichen Stückausschnitt, mit dem er auch endet: Die Tänzer in tadelloser Partykleidung ziehen als Reihe, hintergründig fröhlich gestikulierend, auf. Nehmen sie anfangs »nur« das leere Wuppertaler Theater in Besitz und vollführen ihren Zug nochmals vor dem Haus, gewinnt die Schlussreihe, nun auf dem Grat einer Abraumhalde, die Schärfe eines Absturzes.

Lange verweilt der Film bei »Sacre du printemps«, wohl Bauschs Meisterstück. Erde wird hereingekarrt, das rote Tuch, Metapher von Defloration und Blutopfer, gelegt, Angst peinigt spürbar die Erwählte. Alles, was sie tue, sagt zwischendrin Pina, sei bloß ein Ahnbarmachen, bescheiden den Wert ihrer Fund-Stücke abwiegelnd. Wie wichtig ihr Naturelemente waren, Wasser, Erde, Wald, Tier, zuvörderst der Mensch hinter der Fassade einer Gutbürgerlichkeit, zeigen die Exzerpte, bescheinigen ihr vor allem die Tänzer. Sie hebt der Film in Stückszenen hervor, lässt sie kurz zu Wort kommen und ihre Aussage in kleinen Soli untermauern.

Pina gab mir eine Sprache, sagt eine, »du musst verrückter werden« war Pinas einziger Kommentar an sie in 20 Jahren. Pina war eine Malerin, vergleicht ein anderer. Pina hatte die durchdringendsten Augen der Welt – sie sah etwas, vor dem ich Angst hatte, weil ich es noch nicht kannte, bekennt eine dritte. Pina war zerbrechlich und kraftvoll, ein Haus mit einem Dachboden voller Schätze, lautet ein nächstes Kompliment. Die Bauschs Solo aus »Café Müller« übernehmen musste, das mit den geschlossenen Augen, wollte das nie tanzen, weil sich das niemand von einem anderen Körper vorstellen konnte. Aber: Pina kritisierte nie direkt, gab allenfalls ein Bild, ermunterte, weiter zu suchen, weiß jemand. Man musste sich an den Haaren selbst aufrichten, sagt eine Tänzerin und demonstriert das in einem Solo.

Wie die meisten anderen auch, tut sie das im Stadtraum, den auch Bausch 35 Jahre kannte. Um das Theater, auf Rasen unter der Magnetschwebebahn, im Wald, in der Wüstenei einer Halde, in der Kulisse einer Kokerei, auf einer Bergwerkslore. Fragile Gestalten suchen sich in belebtem Alltag oder der Einsamkeit bracher Industriearchitektur zu behaupten. Warum hast du Angst vor mir, ermuntert sie eine scheue Tänzerin, einer anderen gibt sie mit: Deine Zerbrechlichkeit ist auch deine Stärke.

All die Eigenschaften sind bei Bausch subtil Bild geworden, außer in »Sacre« und »Café Müller« weisen das im Film auch »Vollmond« und »Kontakthof« aus, der in drei verblüffend unterschiedlichen Versionen läuft: mit der Compagnie, Senioren über 65, Teenies ab 14.

Leise und unaufdringlich nähert sich Wenders »Pina«, der radikalen Forscherin, die tief in unsere Seelen geschaut hat. Und immer wieder fragte, woher unsere Sehnsucht rührt. Sagt jemand treffend.

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