Wahlkampfschwung: Atomrolle rückwärts

»Ergebnisoffene« Prüfung und »tabufreie« Debatte: Die neue Haltung der CDU in den Landtagswahl-Bundesländern

  • Lesedauer: 4 Min.
Nach den Reaktorunfällen in Japan macht die deutsche Anti-Atom-Bewegung mobil und in den Bundesländern, wo Landtagswahlen anstehen, wird Atomkraft zum wichtigen Wahlkampfthema.

Berlin (Agenturen/ND-Drescher). Anti-Atom-Proteste gleichzeitig in so vielen Städten hat es vermutlich vorher nur nach der Atom-Katastrophe in Tschernobyl gegeben: In hunderten Orten in ganz Deutschland wollten am Montagabend Unterstützer der Anti-Atomkraft-Bewegung auf die Straße gehen. »Es ist unvorstellbar, was hier passiert«, sagte der Sprecher der Kampagne .ausgestrahlt, Jochen Stay, zu den mehr als 320 geplanten Mahnwachen. »Wir haben völlig den Überblick verloren.« Die Organisation hatte seit Samstag im Internet zu den Aktionen aufgerufen, die ab 18 Uhr stattfinden sollten. Die Resonanz sei dank des Internets enorm gewesen, sagte Stay. »Das ist Protest 2.0.«

Gegen 17 Uhr begann vor dem Bundeskanzleramt eine Demon-stration für einen sofortigen Ausstieg aus der Atomkraft. In Regensburg gingen schon am Montagnachmittag rund 500 Menschen für die Stilllegung der deutschen Atommeiler auf die Straße. Die Teilnehmer zogen mit Trommeln und Trillerpfeifen durch die Altstadt, auf Plakaten stand: »Schwarz-Gelb abschalten.«

Diese Parole lässt sich nicht nur auf das gleichfarbige Warnsymbol für Strahlung – Synonym für die Gefahren der Atomkraft – münzen, sondern offenbart auch auf die missliche Lage der schwarz-gelben Atomparteien CDU/CSU und FDP: Es stehen Landtagswahlen unmittelbar bevor. Am Sonntag wird in Sachsen-Anhalt, am darauf folgenden Wochenende in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg ein neuer Landtag gewählt. Und ob die von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Vize-Kanzler Guido Westerwelle (FDP) angekündigte Aussetzung der AKW-Laufzeitverlängerung für drei Monate ausreicht, um ihren Landesparteien einigermaßen unbeschadet von der Atomdebatte über den Wahlsonntag zu helfen, wird sich zeigen.

So muss etwa der baden-württembergische Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) durchaus damit rechnen, dass die Wähler ihm die Quittung für seinen entschiedenen Einsatz für eine Laufzeitverlängerung der Atommeiler im Land präsentieren. Im Streit um den Ausstieg aus dem Atomausstieg hatte Mappus seinem Parteifreund und Bundesumweltminister Norbert Röttgen sogar den Rücktritt nahegelegt, nur weil Röttgen für ein nur wenige Jahre dauernde Laufzeitverlängerung plädierte. In aller Eile setzt der Regierungschef nun auf eine Über-alles-Reden-Strategie, mit der er bei der Schlichtung im Streit um das Bahnprojekt Stuttgart 21 bereits Erfolg hatte. Zudem lässt Landesumweltministerin Tanja Gönner (CDU) seit Montag die Notstromversorgung der Atommeiler im Land überprüfen. Das geschehe »ergebnisoffen«: Wenn in einem Kraftwerk keine Sicherheit gewährleistet sei, werde auch abgeschaltet, kündigte Gönner im Deutschlandfunk an.

Atomkraftgegner bezweifeln allerdings, dass die Kehrtwende bis zum Wahltermin in knapp zwei Wochen konkrete Ergebnisse bringen wird. Sie werfen der schwarz-gelben Landesregierung zudem vor, Nachrüstungen für den Weiterbetrieb der beiden Uraltmeiler Philippsburg 1 und Neckarwestheim 1 nicht vorangebracht zu haben. Die Umweltschutzorganisation Greenpeace zeigte Gönner sogar an, weil sie angeblich Unterlagen über die Sicherheit von Philippsburg 1 trotz richterlicher Aufforderung zurückhält.

Die Diskussion über die Sicherheit von Atomkraftwerken beschäftigt wenige Tage vor der Landtagswahl auch die Spitzenpolitiker in Sachsen-Anhalt. Politiker aller Parteien betonten am Montag in Magdeburg, dass die Sicherheit der Menschen wichtigstes Anliegen sein müsse. CDU-Spitzenkandidat Reiner Haseloff wies auf die Bedenken der Menschen hin. »Als Politiker müssen wir ernst nehmen, dass die Menschen in Deutschland Zweifel an der Laufzeitverlängerung haben.« Die neue Debatte über die Atomkraft müsse »völlig tabufrei« laufen. Die Zukunft liege in erneuerbaren Energien, deshalb müsse es einen Ausstieg aus der Atomkraft geben, sagte Haseloff dem Sender MDR Info. Den Zeitpunkt ließ er offen.

Der SPD-Bundestagsabgeordnete Burkhard Lischka (Magdeburg) kritisierte die Position Haseloffs als unverantwortlich. Der Wirtschaftsminister habe sich früher für eine Verlängerung der Laufzeiten stark gemacht. Seine aktuelle Haltung sei deshalb »fadenscheinig und reinste Heuchelei«. SPD-Spitzenkandidat Jens Bullerjahn sprach sich dafür aus, dass die neue Landesregierung alles für den Umstieg auf erneuerbare Energien tun müsse. LINKE-Spitzenkandidat Wulf Gallert bekräftigte seine Zweifel an der Sicherheit der Atomkraft. »Keines der Kernkraftwerke in der Bundesrepublik ist auf den Fall einer Kernschmelze hin ausgerüstet«, sagte er MDR Info. Seine Partei fühle sich »in der Warnung vor der Atomenergie in schrecklicher Art und Weise bestätigt«.

Nach Einschätzung des Jenaer Geowissenschaftlers Gerhard Jentzsch könnten aber auch in Deutschland Erdbeben und Hochwasser zu einem Atom-GAU mit unvorhersehbaren Folgen führen. Viele Atommeiler stünden wegen des Kühlwasserbedarfs an Flüssen. Führe der Fluss nun Hochwasser, könne auch ein schwaches Beben dazu führen, dass sich Sandboden verflüssige, erläuterte Gerhard Jentzsch am Montag. »So könnte der ganze Reaktorblock ins Rutschen geraten.«

Jentzsch sprach sich dafür aus, die alten Atommeiler sofort vom Netz zu nehmen. »Die Stromkonzerne haben doch bewiesen, dass die alten Kraftwerke gar nicht benötigt werden.« Er wies darauf hin, dass in Deutschland – etwa im Rheinland – jederzeit Erdbeben möglich seien. »Auch ein relativ schwaches Beben kann enorme Schäden anrichten«, betonte der Fachmann. Außerdem sei die Frage der sicheren Endlagerung des Atommülls noch nicht geklärt. Jentzsch: »Solange es keine sichere Endlagerung gibt, dürfen wir keinen weiteren Atommüll produzieren.«

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal