Das böse Gerücht

iShareGossip

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: 3 Min.

Es ist beruhigend: Die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften hat die Website »isharegossip.com« (iShareGossip – der Name der Seite bedeutet sinngemäß »Ich verbreite Tratsch«) auf den Index gesetzt. Die Seite bietet Schülerinnen und Schülern eine Plattform für anonyme Hetze und Beschimpfungen gegen andere Jugendliche, aber auch gegen Lehrer. Die ganze Bandbreite der Fäkaliensprache, sexuelle Anzüglichkeiten und rassistische Hetze finden sich in den Einträgen. Was vor dem Internetzeitalter noch auf dem Pausenhof blieb, verbreitet sich jetzt weltweit: das böse Gerücht!

Den Plan zur Indizierung gibt es schon seit Längerem, beschleunigt wurde das Verfahren, nachdem in Berlin ein 17-jähriger Jugendlicher beim Versuch, eine Mobbing-Attacke von iShareGossip gegen seine Freundin zu schlichten, krankenhausreif geprügelt wurde. Das Räderwerk der Bürokratie setzte sich ungewöhnlich schnell in Gang, Politiker zeigten sich entsetzt über die verbalen Attacken, die in körperliche Gewalt umschlugen, die Medien forderten rasches Durchgreifen. Eine Koalition der Willigen setzte das Menschenrecht auf psychische Unversehrtheit schließlich durch.

Es klingt beruhigend, doch es ist nicht beruhigend. So beunruhigend es klingt: iShareGossip ist nur der Ausdruck des Übels. Gemobbt und beschimpft wird nicht nur an den sogenannten Problemschulen, den Heimstätten der Unterschicht, die von der bürgerlichen Öffentlichkeit gemeinhin als Hort der sozialen Verwahrlosung identifiziert werden. Mit Erschrecken stellte man fest, dass sich auch die Gymnasiasten in den vornehmeren Stadtteilen Berlins gegenseitig beschimpfen und Gewalt androhen. »Ungewöhnlich rege« sei das Mobbing »ausgerechnet« am »anerkannten katholischen Canisius-Kolleg« sowie an der John-F.-Kennedy-Schule, »die mit 43 Einser-Schnitten im vergangenen Jahr Berlins Top-Abiturjahrgang stellte«, schrieb am Wochenende der Berliner »Tagesspiegel«.

Ungewöhnlich ist dabei nicht das Mobbing, sondern vielmehr das Erschrecken über die Erkenntnis, dass das Gymnasium, jene Festung des Bildungsbürgertums vor der Brachialgewalt des sozialen Verfalls, längst geschleift ist. Das akademische Milieu sucht einen sozialen Schutzraum vor der verstörenden Unmittelbarkeit, mit der die Unterschicht auf die strukturellen Zumutungen der Gesellschaft reagiert. Der Fluchtort Gymnasium bietet aber diesen Schutz nicht, er entpuppt sich im Gegenteil selbst als Ort der Gewalt. Diese Gewalt tritt den Schülern auch so entgegen: Im kommenden Schuljahr wird in Berlin der erste Jahrgang das Gymnasium verlassen, der das Abitur nach zwölf, statt nach 13 Schuljahren abgelegt hat. In der Berliner Presse war in den letzten Tagen zu lesen, dass die betroffenen Schüler über die hohe Belastung durch überfrachtete Stundenpläne, Noten- und Leistungsdruck klagen; für Freizeitaktivitäten hätten sie kaum noch Zeit. 17-Jährige, die schon das Dasein eines Managers fristen, ohne allerdings im Betrieb Schule über deren gesellschaftlich sanktionierten Vorteil zu verfügen, sich für ihre Fesselung an den Betrieb an Untergebenen rächen zu können

Diese Gewalt erzeugt Gegengewalt und diese sucht such ein Ventil. Es ist beunruhigend: Eines dieser Ventile ist jetzt geschlossen.

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