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»Es gibt nicht den Täter, es gibt nicht die Sexualstraftat«

Der Psychologe Adolf Gallwitz über Missbrauch, den Zölibat, den Lolita-Effekt und Gewalt in der Familie

  • Lesedauer: 8 Min.
Vor einem Jahr nahm der Runde Tisch »Sexueller Kindesmissbrauch«, den die Bundesregierung ins Leben gerufen hatte, seine Arbeit auf. Zuvor waren zahlreiche Missbrauchsfälle in kirchlichen und anderen Institutionen aufgedeckt geworden, die größtenteils Jahrzehnte zurück lagen und somit strafrechtlich verjährt sind. Hilfe und Entschädigung für die Opfer sowie Prävention gehören zu den Themen, mit denen sich das Gremium befasst.
In Familien, in denen Gewalt ausgeübt wird, findet auch vermehrt sexueller Missbrauch statt.
In Familien, in denen Gewalt ausgeübt wird, findet auch vermehrt sexueller Missbrauch statt.

ND: Herr Gallwitz, hat Sie das im vorigen Jahr bekannt gewordene Ausmaß von sexuellem Missbrauch in Schulen und kirchlichen Einrichtungen überrascht?
Gallwitz: Kollegen von mir und ich haben uns immer schon mit den Problemen in Institutionen beschäftigt. Aber wir waren überrascht, dass sich alle auf die katholische Kirche gestürzt haben und es keinen Ruck in anderen Bereichen gegeben hat.

Welche wären das gewesen?
Selbstverständlich auch die anderen Kirchen und jede Art von Heimunterbringung.

Und das, was in den Familie geschieht.
Ja, wir haben nach wie vor den Verdacht, dass überall dort, wo Gewalt herrscht, auch sexuelle Übergriffe an der Tagesordnung sind. Da gibt es eine ganze Reihe von Studien. Dass die Gewalt in den Familien in den letzten Jahren zugenommen hat, ist ja ein offenes Geheimnis. Wir haben auch Studien vom Bundesfamilienministerium, in denen man untersucht hat, in welchen Migrantenfamilien im Verhältnis zu deutschen Familien besonders viel Gewalt praktiziert wird. Danach fallen Familien aus der GUS, der Türkei und dem ehemaligen Jugoslawien auf. Christian Pfeiffer vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen wiederum hat den Zusammenhang zwischen beobachteter und erfahrener Gewalt in den Familien und sexuellen Übergriffen untersucht und gefunden.

Was die Missbrauchsfälle im Bereich der katholischen Kirche anbelangt, welche Rolle spielt dort Ihrer Ansicht nach der Zölibat?
Der Zölibat ist nicht die Ursache. Aber es stellt sich die Frage, welche Menschen von einer Gemeinschaft angezogen werden, wo man sich einen Verzicht auferlegen muss, und ob dieser Verzicht wirklich freiwillig ist. Ich sehe Probleme bei sehr jungen Männern, die kurz nach dem Abitur eine Menge christliche Ideale, wenig Lebenserfahrung und noch keine Erfahrungen mit ihrer eigenen Sexualität haben. Wir haben sicher auch Leute, die wissen, dass sie Probleme mit ihrer Sexualität haben, und die glauben, mit dem Zölibat ist Schicht im Schacht, dann brauche ich mich nicht mehr damit auseinanderzusetzen. Der Zölibat ist also durchaus auch ein Magnet für Menschen, die überall besser aufgehoben wären als unter einem zusätzlichen Verzicht.

Wie ließe sich dem entgegenwirken?
Da braucht man gute Assesmentcenter und gute Psychologen um herauszufinden, was der wirkliche Grund für den Berufswunsch ist und ob der Mensch geeignet ist. Eine gesunde Persönlichkeit mit einer gesund entwickelten Sexualität hat bessere Möglichkeiten sich zu überlegen, ob dieser Verzicht wirklich freiwillig ist. Wenn wir das sicherstellen können, dann sehe ich am Zölibat per se kein Problem.

Stimmt es, dass Missbrauch nicht unbedingt etwas mit sexueller Befriedigung zu tun hat, sondern mit dem Bedürfnis, Macht auszuüben?
Es gibt nicht den Täter, es gibt nicht die Sexualstraftat, und es gibt nicht die klassischen sexuellen Motive. Es gibt das Motiv, Aggression ausleben zu können, Dominanz und Kontrolle über jemanden zu haben. Solche Übergriffe haben sadistische Züge, und in der Regel ist überhaupt keine Sexualität im klassischen Sinn beteiligt.

Dann hat man einen großen Bereich, wo es um sexuelle Ausbeutung geht, meistens von älteren Kindern und Jugendlichen. Die Beschuldigten haben Blockierungen, mit Gleichaltrigen sexuelle Handlungen zu praktizieren. Bei anderen Tätern hat das Opfer eine Surrogatfunktion, insbesondere bei sehr jungen Opfern, wo es sich um die Suche nach emotionaler Zuwendung handelt.

Auch in dem kleinen Bereich, wo es um Sexualität im eigentlichen Sinn geht, gibt es sehr häufig Praktiken, bei denen es um Verletzungen und Verbrennungen geht, wo Gegenstände eine Rolle spielen. Die Motive, die beherrscht werden von Ausbeutung und Aggression, von Macht und Kontrolle, sind derartig vielfältig und häufig so weit entfernt von der normal gelebten Sexualität, dass sich das viele nicht vorstellen können. Sie denken, beim Missbrauch würde ein großer Mensch durch einen kleinen Menschen ersetzt.

Hat sich die Diskussion darüber inzwischen weiterentwickelt? Hat man mehr verstanden?
Ich glaube das nicht. Von dem Moment an, als die tägliche Berichterstattung aufhörte, ist man wieder zur normalen Denkweise zurückgekehrt. Wenn ich mir vorstelle: Ich habe vor einigen Monaten Natascha Kampusch getroffen, und sie hat erzählt, dass erwachsene Leute in Wien vor ihr auf der Straße ausspucken. Da sehen Sie, dass Menschen wenig beeindruckt sind durch kurzfristige Hypes in der Berichterstattung. Was man nie glauben wollte, glaubt man einfach nicht. Es steckt immer die Vermutung dahinter, dass viele Kinder und junge Menschen die Opferschaft provoziert haben.

Die alte Ausrede: Das Kind hat mich verführt.
Richtig.

Und die Opfer sind selber schuld.
Ja. Das ist am einfachsten. Dann sind meine Nachbarn keine potenziellen Täter und damit ist die Welt wieder in Ordnung. Die Art und Weise des Umgangs hat etwas mit der Stabilität in der eigenen Persönlichkeit zu tun. Und radikales Umdenken würde bei vielen Menschen große Sorgen und Befürchtungen wecken. Da ist es besser, man nimmt althergebrachte Erklärungen.

Macht ist auch ein konstituierendes Element von Gesellschaft. Wie geht man damit um?
Macht und Ohnmacht, Ungleichgewicht und Ausgeliefertsein beginnen, wenn man auf die Welt kommt: als Säugling, der einer Familie ausgeliefert ist, die möglicherweise überfordert ist. Sie enden, wenn man ins Altersheim gebracht wird und sich nicht mehr gegen die Übergriffe wehren kann, die dort stattfinden können. Dazwischen hat alles mit Macht und Ohnmacht, mit Über- und Unterordnung zu tun. Deswegen haben wir ja auch ein großes Mobbingproblem an den Schulen und Arbeitsplätzen. Es gibt keine Gleichheit im Zusammenleben von Menschen und deshalb müssen wir Menschen besser auf Ungleichheit und die Möglichkeit von sexuellen Übergriffen vorbereiten.

Was kann man in der Kindererziehung tun?
Wir brauchen mehr klare Informationen, ohne die Sorge zu haben, die Kinder könnten Schaden nehmen, wenn sie davon erfahren. Sexueller Missbrauch geschieht sehr häufig. Deshalb müssen Kinder frühzeitig und altersgerecht erfahren: Was ist Sexualität? Was ist Sexualkriminalität? Wie gehen Täter vor? Wie versuchen sie, mich in die Übergriffe einzubeziehen? Das sind Dinge, mit denen sich Lehrer und Erzieher nicht beschäftigen möchten. Sie sagen zur Entschuldigung: »Da kennen wir uns nicht aus«. Da wird dann erwartet, dass die Polizei durch die Kindergärten und die Schulen tingelt.

Hilft es, wenn Kinder auch zu Hause »nein« sagen dürfen?
Selbstverständlich. Wir erziehen auf diese Weise natürlich Kinder, die anstrengender sind, weil sie sich nicht mehr alles gefallen lassen. Aber ich muss es auch vorleben. Und da sind wir wieder bei den Familien. Wir haben ein erschreckendes Ausmaß an alltäglicher Gewalt. Man kann grob sagen: Ein Siebtel aller Familien hat ein Gewaltproblem. Und in einem noch größeren Teil gibt es unsichtbare Gewalt. Da wird nicht geprügelt und geschlagen, aber da werden Menschen unterdrückt und herabgewürdigt. Man kann nicht erwarten, dass Kinder aus solchen Familien vorbereitet und geschützt sind gegen andere Übergriffe.

Müssen sich die Medien auch an die eigene Nase fassen, weil sie gern mit dem Lolita-Effekt spielen?
Ganz stark. Nehmen Sie Formate wie »Deutschland sucht den Superstar« oder »Germany's next Topmodel« und beobachten Sie, wie sich Mädchen und junge Frauen entblöden müssen, um in die Endauswahl zu kommen. Bei der letzten Staffel gab es Castings, wo junge Erwachsene nur noch mit Plastikhütchen auf den Brustwarzen auftreten mussten. All diese Castingshows sind ohne Nacktheit nicht denkbar.

Es ist ein Problem, dass viele junge Mädchen es als natürlich und normal empfinden, sich in der Öffentlichkeit zur Schau zu stellen. Damit kommen sie auch den gleichaltrigen Jungs entgegen, die ein verändertes Verhältnis im Konsum von Pornografie entwickelt haben. Das bedeutet, dass wir mit möglichen Auswirkungen nicht nur auf sexuelle Übergriffe, sondern auch auf die Liebesfähigkeit rechnen müssen.

Was ist es, was die Opfer belastet?
Neben dem Verlust des Vertrauens in die eigene Wahrnehmung ist es bei vielen Mädchen und Jungen die Sorge, dass sie nicht normal, dass sie lesbisch oder homosexuell sind. Dass sich das wiederholen kann, dass sie keine Kontrolle darüber haben. Es sind Dinge, über die sie mit niemandem reden können, sie sind damit die ganze Kindheit und Jugend allein. Sie haben Angst, man könnte ihnen an der Nasenspitze ansehen, was mit ihnen geschehen ist. Sie verlieren das Gefühl dafür, was richtig ist, und geben sich die Schuld an allem, was schief läuft.

Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren mit sexuellem Missbrauch. Wie gehen Sie selbst mit Dingen um, die Sie dabei erfahren haben?
Aus irgendwelchen Gründen ist für mich die Supervision und die Möglichkeit, mich von den dienstlichen Bildern zu entspannen, ganz gut umgesetzt worden. Wenn ich mit manchen Menschen darüber rede und ins Detail gehe, dann kann es schon sein, dass sie den Eindruck haben, als ob ich abgehärtet sei. Das geht wohl auch jedem Unfallchirurgen so. Mir tun die Beamtinnen und Beamten leid, die den ganzen Tag Kinderpornografie auswerten. Das ist eine absolute Folge von ekelhaftem Bild- und Videomaterial. Und für diese Menschen ist nicht unbedingt eine Supervision vorgesehen. Da liegen die größeren Probleme.

Interview: Susanne Ehlerding

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