Der verschobene Aufstand

Maxim Gorkis »Kleinbürger« am Deutschen Theater Berlin

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 5 Min.

Am Anfang ist es stockdunkel, sogar die Lichter für die Notausgänge sind abgeschaltet. Dann, als es langsam heller wird, fragt jemand: »Wie die Geschichte wohl ausgeht?« Dass es immer nur heller werden wird, glaubt hier unter Gorkis »Kleinbürgern«, seinem Erstling von 1902, allerdings niemand.

Im Licht taucht nun ein Denkmal in der Bühnenmitte auf, darauf ein Mann mit ausgestrecktem Arm, uns den Rücken zukehrend. Lenin? Wir blicken aus dem Zustand des historischen Danach auf dieses Geschehen ganz am Anfang eines Jahrhunderts, das mit so großem Zukunftspathos antrat. Und nun weist der Mann aus Stein den Weg mit einer keinen Zweifel zulassenden Handbewegung – wohin, zurück? Denn wir befinden uns hinter dem Denkmal, die Hand zeigt ins Dunkel.

Regisseurin Jette Steckel beweist sicheres Gespür für Rhythmus und die Frage: Wie nehme ich Gorkis Text zugleich ganz ernst – und hole unsere historische Erfahrung mit ins Geschehen? Dass hier das reine Seelenkammerspiel nicht reicht, zeigt früh eine Art Techno-Tanz der Figuren zu Maschinenmusik: Ja, es war auch das Jahrhundert uniformisierender Ideologien.

Ab und zu sägt sich so die andere Dimension mit schrillen Tönen in die wohlgesetzten Debatten über die Frage, wie man leben soll, wie man überleben kann in einer Zeit, die zweifellos eine Endzeit ist. Eingespielte Videos der Schauspieler ganz privat – und eben doch als Teil der Welt mitsamt den Gorkischen Fragen, das gefällt nicht jedem, aber hier hat das eine Funktion, besitzt ein Maß, Geist und Witz ohnehin. Steckel inszeniert die Krankheit der Zeit, aber so, dass wir keinen Moment lang den Eindruck haben, diese sei eine von Gestern. Und die Zukunft, sie verheißt und droht gleichermaßen.

So gehen die drei Stunden im Hause Bessemjonow schnell vorbei. Ein wehleidiger Haustyrann (nur verbogen, nie gebrochen: Helmut Mooshammer), eine Tschechow-Figur schlimmster Sorte, lebt die Konventionen einer Welt, die bereits alle Ordnungssysteme hinter sich gelassen hat. Aber doch nicht in seinem Hause! Die notorische Unzufriedenheit inmitten der befestigten Kleinwelt, die sinkende Lebenslust bei gleichzeitig wachsender Selbstgerechtigkeit, Gorki hat es mit präzisem Endzeit-Gespür beschrieben – und Jette Steckel gelingt eine sehr gegenwärtige Übersetzung.

Da ist Bessemjonows Frau, bei Barbara Schnitzler ein Schatten, den der Zweifel befiel, ob das eigene Selbstopfer, das Einschrumpfen der Sehnsüchte auf die engen vier Wände je Sinn hatte – aber bei dieser Ahnung einer auszehrenden Krankheit bleibt es. Ebenso bei Pjotr, dem Sohn des Hauses, der von der Universität flog, vielleicht weil er tatsächlich bei einer Demonstration dabei war, vielleicht auch, weil er einfach keine Lust mehr hatte – er weiß es wohl selber nicht. Er ist bereits wie sein Vater im Kleinen: Diese Sorte Mensch wächst immer nach. Ole Lagerpusch spielt grandios einen Menschen im Zerstörungskampf gegen alles in sich, was noch lebt. Auch Natali Seelig, selbstmordversuchende Tochter des Hauses, Olivia Gräser als Dienstmädchen mit Ausbruchswillen, Markus Graf, Katrin Wichmann, Peter Jordan und Thomas Schumacher gelingt es, den Kleinbürgerkosmos in allen Facetten zu zeigen. Und wir sehen: Das sind wir, auf unseren überschaubaren Lebenskreis bezogen, in Abwehr die grausame Welt, wenn sie nach uns greift. Virtuosen des Überlebens, mehr nicht – aber so viel doch.

Aber da gibt es einen, der anders ist: Nil, den Lokführer undPflegesohn des Hauses, in dem Bessemjonow sofort das »fremde Blut« ausmacht, Felix Goeser spielt ihn mit großer Kraft auf der Grenze aller Befreiungsideen zum Demagogischen. Und dann tritt er vor und spricht einen Text, der mir sehr bekannt vorkommt: »Steht jetzt auf und empört euch!« Aha, der greise Stéphane Hessel, der mit seiner Flugschrift »Empört Euch!« den jugendlichen Resistance-Kämpfer in sich wieder entdeckt. Eine wichtige Schrift, aber was kommt nach der Empörung?

Goeser treibt es zur Konsequenz: Nach den Idealisten, den Träumern von einer besseren Zukunft, kamen immer die Agitatoren, nach den Agitatoren die Tschekisten, nach diesen die Erschießungskommandos. Gut so? Da verändert sich etwas atmosphärisch, da verliert der Verstand seine Falten, da wird schnell zur Tat geschritten, so schnell, dass man sich ein Haus wie eine Festung wünscht, wo sie einen nicht finden.

Goeser als revolutionärer Mensch von morgen (den wir schon von gestern kennen) macht Stimmung unterm Volk, im Publikum: Steht auf und sagt, es muss sich etwas ändern! Und während diejenigen, die solche Bekundungen kennen und die den Missbrauch zum Gefolgsmann hinter welcher Art von Führer auch immer fürchten, wie angefroren in dieser zunehmend nötigender und erhitzter werdenden Situation festsitzen (noch die Mehrheit immerhin), springen einige meist junge Zuschauer auf und sprechen bereitwillig nach, was ihnen vorgesprochen wird. Gewiss, wir leben in unhaltbaren Zuständen, aber soll man sie darum noch weiter stoßen – und wohin? Wer wird freiwillig zu jener Masse, mit der man Machtfragen angeht? Ist der einzelne in dieser Masse nicht immer nur Geisel?

Nach dem Ende des Proletariats und auch nach dem Ende der Kapitalisten, da das Geld an den Börsen macht, was es will, vielleicht sollte man da nicht weniger gering von den Kleinbürgern denken, die sich um Ordnung, häuslichen Frieden und Sicherheit auf den Straßen sorgen? Gorki übrigens wusste um die engen Kreise, die das Leben zieht – trotz Traum von Weite und Größe. Aber was diesem Nil in seinem Zorn auf die Verhältnisse doch fehlt, auch das sagt in dieser bewegenden, den Nerv der Zeit bloßlegenden Inszenierung jemand: »Hast Du nicht manchmal Mitleid mit uns?«

Nächste Vorstellung: 14., 16. Mai

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