Unbegreiflichkeit der Schöpfung

»The Tree of Life« von Terrence Malick

  • Kira Taszman
  • Lesedauer: 4 Min.

Was bedeutet das Leben eines Menschen? Was ist es wert, gemessen an beständigeren Lebensformen oder gar an der Unendlichkeit des Universums? Ist unser Dasein nur ein kurz aufflackerndes Licht, das sofort wieder erlischt? Mit dem Bild einer brennenden Kerze beginnt und endet der neue Film von Regie-Guru Terrence Malick. In den zweieinhalb Stunden dazwischen passiert ein Menschenleben Revue und parallel dazu wird – so weit hergeholt wie nahe liegend – die Entstehung des Kosmos illustriert. Denn letztlich ist bei Malick alles eine Sache des Maßstabs. Geburt, Leben und Sterben eines Menschen sind ebenso rätselhaft wie die vier Elemente, unser Planet und die Galaxien.

Ein junger Mann ist im Krieg gestorben. R.L. (Laramie Eppler) war der mittlere dreier Brüder einer Mittelklassefamilie, irgendwo in einem typisch amerikanischen Vorort. Während die Mutter (Jessica Chastain) in Starre verfällt und der Vater (Brad Pitt) den Verlust zu verdrängen sucht, erinnert sich der ältere Bruder Jack als Erwachsener an die gemeinsam verbrachte Kindheit. Jack (Sean Penn) irrt dabei als heutiger Erfolgsmensch mit Leidensmiene durch die ultra-stilisierte Stein- und Glasarchitektur moderner Wolkenkratzer. Er baut Häuser und sehnt sich nach einer Struktur für ein Leben, das ihm stets entglitten ist.

In Rückblenden werden alle Stationen seiner Kindheit evoziert – von der Geburt, der ungeteilten Zuwendung der Mutter für das Kleinkind bis hin zu ersten Frustrationserfahrungen mit dem Auftauchen des jüngeren Bruders. Dabei gelingen Malick großartige und berührende Bilder: ein winziger Babyfuß in der Hand des Vaters, erste wankende Schritte des Kleinkinds, das neugierige Beäugen des schreienden Familienzuwachses.

Bevor Malick sich freilich dem Leben im Kleinen widmet, stellt er es in einen größeren Kontext. Denn die Natur ist so übermächtig wie überwältigend: Hier leistet sich der Regisseur den Luxus, sie eine geschlagene halbe Stunde lang dem Zuschauer in all ihren Erscheinungsformen vorzuführen. Versinnbildlichte eben noch ein nackter Fuß auf einer geteerten Straße die Dualität Natur-Zivilisation, geht Malick nun vollends zur Natur über. Es folgt ein mit bombastischer bis schriller (Opern-)Musik unterlegter bildlicher Überwältigungs-(Kraft-)Akt, der dem Zuschauer den Gang in die Sternwarte oder ins Aquarium erspart. Kaleidoskopartige Bilder des Kosmos: Erde, Sonne, eine Milchstraße. Auf der Erde: ausbrechende Vulkane, dampfende Lava-Landschaften, Fruchtbarkeitssymbolik mit überschäumenden Wasserfällen oder Felsspalten. Geblubber, Gewaber, Eizellen, Quallen; Tarkowski-artiges Plätschern eines Baches … Es ist der Höhepunkt von Malicks philosophisch-esoterisch-religiösem Filmessay: eine Hommage an die Unfassbarkeit der Schöpfung und des Seins. Das Staunen darüber spiegelt sich auch in der Form wieder: assoziativ, repetitiv, pompös und doch voll betörender Landschaften, die mit Symbolen aufgeladen und überladen sind.

Diese missionarische Natur-Zeremonie zeugt sowohl von einer gehörigen Portion Megalomanie als auch von der Chuzpe, einen Film in Bildern zu komponieren, die herkömmliche Erzählmuster so konsequent unterwandern. Die menschliche Natur, die Malick im Folgenden innerhalb der Familie seziert, ist ein ständiger Widerstreit zwischen der Macht des Stärkeren und dem Prinzip der Gnade. Letzteres wird durch die schöne rothaarige Mutter verkörpert. Der Vater dagegen predigt den absoluten Aufstiegswillen bis hin zum Sozialdarwinismus: Wer gut ist, geht unter, bläut er seinen Söhnen ein.

Dieser charakterliche Zwiespalt hat sich auch auf die Söhne vererbt. Während der blonde, engelsgleiche mittlere Bruder sanftmütig und musisch begabt ist, lässt sich der Ältere von seinen Dämonen reiten. Jack (Hunter McCracken) quält den Jüngeren und empfindet deswegen als erwachsener Trauernder noch immer Gewissensbisse. Doch die allgegenwärtigen Verbote des beruflich erfolglosen, tyrannischen Vaters wollen überschritten werden. Dieser existenzielle Konflikt mündet in einen freudschen Ödipuskomplex: Der Sohn wünscht dem Vater den Tod und weiß doch, dass er ihm ähnlich ist.

Gegen das Prinzip des Stärkeren, der unbändigen Natur, helfen keine Zivilisationsbemühungen. Unterm Strich zählen nur Gnade und Liebe – Malick untermauert sie mit Bibelzitaten und Off-Kommentaren. In einer mystisch verbrämten Traumsequenz zum Ende des Films versöhnt sich der erwachsene Jack mit seiner Familie in der Gestalt von damals. Ob der Zuschauer mit diesem Film auch sein Seelenheil findet, hängt von seiner Affinität zu Spirituellem und seinem Willen ab, sich auf Malicks Experiment einzulassen. Ein filmisches Wagnis ist »The Tree of Life«, dem die diesjährige Jury in Cannes die »Goldene Palme« zusprach, jedoch allemal.

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