Warum haben Sie ein Not-Budget?

Christopher Gunness beklagt weniger Spenden für Palästina-Flüchtlinge

  • Lesedauer: 3 Min.
Der ehemalige BBC-Reporter (50) ist Sprecher des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge (UNRWA) in Gaza.
Der ehemalige BBC-Reporter (50) ist Sprecher des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge (UNRWA) in Gaza.

ND: Wie ist Ihrer Meinung nach die aktuelle Lage im Gaza-Streifen?
Gunness: Gaza erlebt eine humanitäre Katastrophe. Es gibt eine Krise in jedem Bereich des Lebens: Eine Krise im Gesundheitssystem, denn die medizinische Versorgung ist schlecht, es fehlen vor allem Chirurgen und wichtige Medikamente. Es gibt eine ökologische Krise. Jeden Tag fließen zum Beispiel 16 Millionen Liter ungeklärte Abwässer ins Meer. 95 Prozent des Süßwassers sind nicht trinkbar. Es gibt eine Krise auf dem Arbeitsmarkt – die Arbeitslosenquote beträgt 45 Prozent –, und es gibt eine im Bildungssystem, dem etwa 100 Schulen fehlen. Die Krise in Handel und Produktion ist künstlich verursacht durch die israelische Blockade.

Sollten die dafür Verantwortlichen bestraft werden?
Das UNRWA ist nicht die Stelle, die die Ahndung von Kriegsverbrechen einklagt. Aber ich erwarte verantwortungsvolles Handeln.

Es gibt ja zwei Extreme, was die Einschätzung der Lage dort betrifft. Die Einen reden von akuter Notlage, was die Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern betrifft. Die Anderen behaupten, Hilfsflotten seien total überflüssig, weil Gaza alles Notwendige über Israel bekomme. Was davon stimmt?
Die Kluft zwischen Arm und Reich ist groß und wird größer. Es werden auch im Gazastreifen Einkaufszentren gebaut, sogar in der Nähe von Flüchtlingslagern. Nur können es sich die meisten nicht leisten, dort einzukaufen.

Wieviele Menschen hängen vom UNRWA ab?
Die Zahl der Menschen, die zu uns kommen, um direkt von uns versorgt zu werden, ist auf 300 000 gestiegen. Diese Menschen leben unterhalb der vom UNRWA definierten Armutsgrenze von 1,60 Dollar pro Tag.

Sie haben eine extrem aufregende und aufreibende Woche hinter sich. Es gab Demonstrationen vor der Hauptzentrale des UNRWA in Gaza-Stadt. Was war los?
Wir hatten am Mittwoch und Donnerstag voriger Woche Barrikaden vor den Toren und konnten nicht zur Arbeit zu gehen. Die Menschen forderten lautstark mehr Unterstützung. Ausgelöst wurde der Unmut von der Tatsache, dass selbst unser Notprogramm derzeit gekürzt wird. Unsere traditionellen Geldgeber haben weniger als sonst überwiesen. Deutschland zum Beispiel zahlt an das UNRWA über die EU-Kommission, die unsere zweitgrößte Geldgeberin ist.

Und warum kommt jetzt weniger?
Ich weiß nicht. Da müssen Sie bei der EU-Kommission in Brüssel fragen.

Wie klein ist Ihr Notprogramm?
Unser reguläres Jahres-Budget beträgt 450 Millionen Dollar. Weil wir dies nicht mehr finanzieren können, beträgt das Notprogramm nur 300 Millionen. Aber selbst dieses Not-Budget ist zurzeit reduziert auf 150 Millionen, und auch davon fehlen uns derzeit 35 Millionen Dollar. Daher mussten wir die Versorgung massiv einschränken, was zu den Protesten führte.

Was ist noch von den Kürzungen betroffen?
Bald beginnt das neue Schuljahr. Normalerweise bekommt jedes Kinder in Gaza dann noch 100 israelische Schekel – etwa 20 Euro – vom UNRWA, um Bücher, Hefte und Stifte kaufen zu können. Das wurde gestoppt. 213 000 Kinder sind davon betroffen. Auch 350 000 Jobs im Arbeitsbeschaffungsprogramm sind weggefallen.

Fragen: Martin Lejeune

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