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Im Auge des Boule

Das 20. Holstentorturnier hat über tausend Boule-Spieler aus zwölf Nationen an den Ostseestrand von Travemünde gelockt

  • Christian Heinig, Travemünde
  • Lesedauer: 6 Min.
Erst im Doublette, dann im Triplette: Philippe Quintais (rechts), zwölffacher Weltmeister aus Frankreich
Erst im Doublette, dann im Triplette: Philippe Quintais (rechts), zwölffacher Weltmeister aus Frankreich

Anna Lazaridis ist nervös. Ihre Spielpartnerin fehlt. Ausgerechnet jetzt, wo es um den Einzug ins Achtelfinale geht. Es ist 15 Uhr, Sonnabend, der Brügmanngarten an der Travemünder Strandpromenade, die Sonne lacht. Noch jedenfalls. 23 Grad Außentemperatur, dazu eine leichte Brise, und wenn man kurz inne hält, hört man sogar die Brandung der Ostsee. 50 Meter liegen hier zwischen zwei Welten, der Welt des Boule und der Urlaubswelt. Und irgendwie scheinen sie hier zu verschmelzen, beim 20. Internationalen Holstentorturnier.

»Ich bleibe von Mittwoch bis Mittwoch, eine Woche Urlaub, dazwischen das Turnier«, berichtet Anna Lazaridis, 22, während sie auf ihre Spielpartnerin wartet. Für sie ist es bereits der vierte Start in Travemünde, dem größten Boule-Turnier Deutschlands, mit mehr als tausend Teilnehmern aus zwölf Nationen. Hobbyspieler kämpfen Seite an Seite mit Profispielern. Sie kommen aus England, Frankreich, Spanien, Dänemark, Schweden, den Niederlanden, Polen, Österreich. Sogar aus Madagaskar und Israel sind Teams hier, ihre Stahlkugeln tragen sie meist in kleinen Taschen mit sich herum, die wie Kulturbeutel aussehen. Einige chauffieren sie sogar in schmucken Holzkästchen über die Anlage, wie einen Schatz.

Das kunterbunte Treiben, das sich hier im Windschatten der Lübecker Bucht an drei Turniertagen von Freitag bis Sonntag bis tief in die Nacht abspielt, hat das Flair eines familiären Musikfestivals. Die Musik kommt allerdings nicht aus den Lautsprecherboxen, sie wird von den Boules erzeugt, von den silberfarbenen Kugeln, 650 bis 800 Gramm schwer. Mal knistern sie über die Kieselsteine der Parkanlage, was dann der Fall ist, wenn die Spieler versuchen, ihre Kugeln möglichst nahe an der kleinen Zielkugel (»Sau«) zu platzieren – in der Fachsprache »legen« genannt. Mal gibt es aber auch einen dumpfen Knall. Dann prallt Eisen auf Eisen, für den Angreifer ein gutes Zeichen. Ihm ist es dann in der Regel gelungen, die Kugel seines Kontrahenten wegzuschießen, auch »wegdrücken« genannt. Punkte gibt es beim Boule für alle Kugeln, die nach dem Ende der Spielrunde näher an der Zielkugel liegen als die bestplatzierte Kugel des Gegners. Ein Spiel endet, wenn ein Team 13 Punkte gesammelt hat.

Kugeln aus Marseille

Wo Boule-Turniere gespielt werden, darf eines nicht fehlen: Crêpes und Flammkuchen. Beides bekommt man auch beim Holstentorturnier, dazu stehen zwei Citroën HY-78 bereit, so heißen die traditionellen französischen Verkaufswagen. Und wer mit seinen Spielgeräten unzufrieden ist, kann sich gleich vor Ort einen neuen Dreiersatz Kugel zulegen. Zu haben sind sie an einem der Stände in der Preisspanne von 104 bis 159 Euro.

Der Dreiersatz, den Anna Lazaridis spielt, ist in der Szene als Rolls-Royce unter den Kugeln bekannt. Kostenpunkt 180 Euro, produziert von »La Boule Bleue«, dem ältesten Kugelhersteller der Welt mit Sitz im französischen Marseille.

Anna Lazaridis ist mit Vereinskameraden aus Nordrheinwestfalen angereist, wo sie auch mit ihrem Verein am Ligabetrieb teilnimmt, den Pétanque Freunden Marl-Lüdinghausen. Vor zwei Jahren hat sie ihren bisher größten Coup gelandet, bei den Europameisterschaften der U 23 gab es Gold, durch einen Finalsieg über Frankreich, die Boule-Nation schlechthin.

»Im Vergleich zu den Männern, wo die Franzosen alles abräumen, geht es beim Boule im Frauenbereich ausgeglichener zu. Bei uns ist die Spitze breiter«, erzählt die Berlinerin Judith Berganski, 24, die in der Bundesliga für den Klub Compagnie de Boule Lübeck antritt und ebenfalls dem Europameisterteam angehörte.

Frankreich, wo schon im 13. Jahrhundert mit Holzkugeln Boule gespielt wurde, ist nicht nur Mutterland und Hochburg des Boule, im Männerbereich ist es tonangebend. Seit 2001 ging die Weltmeisterschaft in der Königsdisziplin Triplette ununterbrochen an die Franzosen.

»Das ist schon Wahnsinn, die spielen wirklich in einer eigenen Liga«, sagt Reinhard Schwertfeger, 59, norddeutscher Akzent. Er ist der Organisator des Turniers. Er ist der Mann, der die Weltelite in diesem Jahr nach Travemünde geholt hat. Viele Freunde des Boule bekommen große Ohren, wenn sie Spielernamen hören wie Philippe Quintais, Philippe Suchaud, Bruno Le Boursicaud, Simon Cortez, Bruno Rocher, Dylan Rocher. Sie sind mit unzähligen nationalen Ehrungen und Weltmeistertiteln dekoriert, und in Travemünde kann man ihnen direkt über die Schulter schauen.

»Solchen Spielern zuzusehen, ist schon ein Genuss«, bekennt Jens Sörensen aus Dänemark, das neben Schweden das spielstärkste ausländische Spielerkontingent in Travemünde stellt. Der 54-Jährige spielt beim Nyköbing Falster Pétanque Klub-Vest. Er ist bereits zum achtzehnten Mal beim Holstentorturnier dabei. »In den ersten Jahren waren es nur etwa 30 Teams, da haben wir noch vor dem Holstentor in Lübeck gespielt«, erinnert sich Sörensen. Schnell wurde die dortige Fläche zu klein, man zog um nach Travemünde. »Wer hier einmal teilnimmt, der muss wieder kommen«, schwärmt Sörensen. »Mit dem Meer im Rücken zu spielen, ist einmalig.«

Einsatz auf 256 Bahnen

Allein für das Teilnehmerfeld am Sonnabend, das auf 512 Teams limitiert war, und das bereits am ersten Anmeldetag Anfang März ausgebucht war, hatten die Organisatoren Anfragen von weiteren 130 Mannschaften. Während am Sonntag die Königsdisziplin Triplette auf dem Programm stand, in denen Dreierteams gegeneinander antreten, ging es am Samstag auf den 256 Bahnen im Zweiergespann auf die Anlage, im sogenannten Doublette. Sörensen trat mit seiner Lebensgefährtin Hanne Bille an. Für sie war im B-Turnier erst im Achtelfinale Endstation.

Das gleiche galt auch für die Titelverteidiger des A-Turniers Jan Garner und Martin Kuball, die beide beim VFPS Osterholz-Scharmbeck in Niedersachsen aktiv sind. Sie unterlagen mit 4:13 gegen das Duo Quintais/Suchaud. »Wenn wir in Deutschland jede Woche gegen solche Topleute spielen würden, wäre sicher an einem guten Tag mal ein Sieg möglich«, sagte der 36-jährige Kuball, durchnässt von einem der kräftigen Schauer, die es am Sonnabend ab dem Nachmittag immer wieder gab.

Für ihn und Garner war es die sechste Teilnahme, dreimal haben sie bisher gewonnen. »Als Boule-Spieler wirst du oft belächelt«, sagt Kuball, »dabei ist das ein höchst anspruchsvoller Sport für Körper und Geist.« Von jenen, die es ins Finale schaffen, wird jeder am Ende des Tages seine Kugel rund 300 Mal geworfen haben, was viel Konzentration erfordert, so Kuball. »Du musst topfit sein, wobei zu 70 Prozent der Kopf über Sieg und Niederlage entscheidet.«

Finale unter Flutlicht

In Deutschland spielen derzeit mehrere hunderttausend Menschen Boule, viele vor allem als Freizeitvergnügen, rund 15 000 sind in Vereinen organisiert. Die Boule-Gemeinde wächst stetig. Trotzdem ist es hierzulande ein Nischensport, ganz anders als in Frankreich. Spieler wie Quintais und Suchaud, ebenso wie die späteren Doublette-Gewinner, Bruno Rocher und Sohn Dylan, deren Finale um 22.30 Uhr unter Flutlicht mehr als 500 Zuschauer verfolgten, werden in Frankreich als Helden verehrt. Die Medienpräsenz ist groß, Spitzenbegegnungen werden im Fernsehen übertragen, die Spieler sind gefragt bei Sponsoren.

»Die Franzosen können davon leben, Boule zu spielen. Das sind echte Profis, in Deutschland gibt es das nicht«, sagt Kuball. Was sich Kuball wünscht, ist mehr Öffentlichkeit. »Boule ist ein unterhaltsamer Sport«, sagt er. Das findet auch Reinhard Schwertfeger, der Organisationschef des Holstentorturniers, der den Staffelstab künftig abgeben wird. »Ziel des Turniers war es von Beginn an, dort Boule zu spielen, wo die Leute vorbeikommen, wie hier in Travemünde.« Dass neben »Neues Deutschland« als Medienpartner mit Sat 1. und NDR auch zwei Fernsehsender berichten, hat Schwertfeger besonders gefreut.

Anna Lazaridis freut sich ebenfalls, als ihre Spielpartnerin Sarah Viehaus 45 Minuten nach dem offiziellen Spielbeginn auf die Bahn 67 kommt. Dumm nur, dass sie nun bereits 0:10 zurückliegen – das sagen die Regeln. Ihnen gelingen noch zwei Punkte, dann ist die Partie 2:13 verloren. Anna Lazaridis nimmt es sportlich. In ihre Kugel hat sie sich das Wort »Egaal« gravieren lassen. Man könnte es als ihr Motto verstehen. Sie sagt: »Dabei sein und Spaß haben, darum geht es beim Boule.«

Eine Kulisse zum Verlieben: Das Holstentorturnier ist mit über
1000 Teilnehmern inzwischen das größte europäische Boule-Turnier außerhalb
Frankreichs.
Eine Kulisse zum Verlieben: Das Holstentorturnier ist mit über 1000 Teilnehmern inzwischen das größte europäische Boule-Turnier außerhalb Frankreichs.
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