»Sie haben kein Recht, in Berlin ...«

Heinz Keßler und Fritz Streletz stellten im ND-Club ihr Buch zum »Mauerbau« vor

Das Wort »Mauer« nehmen sie nicht in den Mund. Der einstige Verteidigungsminister der DDR, Heinz Keßler, und sein Vize Fritz Streletz akzeptierten aber, dass der Verleger die aus der Alltagssprache nicht mehr zu eliminierende Inkorrektheit in den Titel ihres Buches setzte: »Ohne die Mauer hätte es Krieg gegeben« (Edition Ost).

Sie wollen verschwiegene Wahrheiten kundtun. Dazu gehört, dass nicht die Maßnahme vom 13. August 1961 Deutschland gespalten hat, sondern vorab die Bildung der Bi- und Trizone, aus der die Bundesrepublik Deutschland hervorging. Keßler/Streletz benannten im ND-Club politische, militärische und ökonomische Gründe, die zu den Grenzsicherungsmaßnahmen vor 50 Jahren geführt haben. Die DDR drohte auszubluten. Bei offenen Grenzen konnte auch deren Hauptstadt nicht zu einem Schaufenster des Sozialismus gestaltet werden. Die Militärs verwiesen zudem auf die starken militärischen, paramilitärischen und geheimdienstlichen Kräfte des Gegners in Westberlin. Ulbricht habe die Schließung der Grenzen nicht gegen den Widerstand von Chruschtschow durchsetzen müssen. Der 13. August 1961 war Resultat eines Kompromisses zwischen der USA und UdSSR. Für die Supermächte und deren Spitzenmänner ging es um Autorität und Glaubwürdigkeit im eigenen Lager sowie um ihr Ansehen in der Welt.

Die Grenzschließung erfolgte »im Interesse und zum Schutze aller Warschauer Vertragsstaaten« (Streletz) und war »ein wichtiger Schritt zur Entspannung auf dem europäischen Kontinent« (Keßler). Der Armeegeneral a. D. räumte ein: »Natürlich hat diese Maßnahme viel Leid und Unannehmlichkeiten für die Menschen gebracht.« Die Buchautoren bedauern jedes Todesopfer an der Grenze.

Auf die Frage des Moderators, ND-Geschäftsführer Olaf Koppe, wie souverän die DDR war, erinnerte Keßler an die langwierigen Ab- und Rücksprachen mit dem Oberkommandierenden des Warschauer Vertrages, dem sowjetischen Verteidigungsminister und dem Oberkommandierenden der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland, als Honecker 1983 anwies, die Minen an der Grenze abzuräumen. Keßler: »Die DDR war ein entscheidender, wenn nicht der entscheidendste Teil im System des Warschauer Vertrages.« Sie musste Weisungen befolgen, wie jene vom 15. Juni 1961: im Falle einer Eskalation sicherzustellen, dass innerhalb eines Tages 10 000 Lkw, olivgrün gespritzt, und 20 000 Betten mit noch mal so viel Bettwäsche für die Sowjetarmee bereitstünden. Dafür hätten DDR-Kliniken, LPG und VEB bluten müssen. Streletz, elf Jahre Stellvertreter des Oberkommandierenden der Vereinten Streitkräfte, ließ dieser Episode eine Hommage folgen: »Die DDR war der wichtigste und zuverlässigste Partner der Sowjetunion. Kein Land im Bündnis hat so gewissenhaft und termingerecht alle Verpflichtungen erfüllt wie die DDR. Und kein Land ist so hinterhältig verraten worden wie sie. «

Auch Koppes Frage, wie der Coup am 13. August 1961 gelingen konnte, beantwortete Streletz: »Es gab keinen Schabowski.« Sodann bot der Generaloberst a. D. ein weiteres Lehrstück in Souveränität, eine bühnenreife Story, die sich am 10. November 1989 im Arbeitszimmer vonEgon Krenz abspielte:

9 Uhr, das Telefon klingelt. Krenz hebt ab. »Einen Moment, Genosse Kotschemassow. Bei mir ist General Streletz, der spricht besser Russisch. Ich übergebe.« Gesagt, getan. Der Sowjetbotschafter schimpft: »Wer hat Ihnen die Genehmigung zur Öffnung der Berliner Grenze gegeben? Mit wem wurde dieser Schritt abgestimmt? Mit uns sind nur Maßnahmen abgesprochen, die die Grenze der DDR zur BRD betreffen. Sie haben kein Recht, in Berlin irgendetwas zu machen.« Streletz, der gerade zum Chef der Operativen Führungsgruppe des Nationalen Verteidigungsrates berufen wurde, erwidert: »Ich habe damit nichts zu tun. Ich werde dieses Problem Genossen Krenz vortragen. Rufen Sie bitte gegen 9.30 Uhr noch einmal an.« Krenz zu Streletz: »Wenn er noch einmal anruft, soll er sich an Oskar Fischer wenden, der ist schließlich unser Außenminister.«

Tatsächlich klingelt 9.30 Uhr das Telefon erneut. Streletz: »Genosse Kotschemassow, ich bin befugt, Ihnen von Genossen Krenz mitzuteilen, dass Genosse Fischer beauftragt worden ist, Ihnen den Sachverhalt zu erläutern.« 9.45 Uhr erneut ein Anruf. Der General nimmt die Rüge des Diplomaten entgegen: »Sagen Sie Genossen Krenz, was Sie gemacht haben, hat dem Ansehen der Sowjetunion großen Schaden zugefügt. Für Berlin gilt der Viermächte-Status. Die Handlungsweise der DDR ist inakzeptabel. Im Interesse der Aufrechterhaltung unserer guten Beziehungen ist es notwendig, dass Genosse Krenz gleich ein Telegramm an Genossen Gorbatschow schickt.«

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