Auch Freibeuter haben einen Briefkasten

Der Berliner Landesvorsitzende der Piratenpartei über plötzlichen Ruhm, Transparenz und Vertraulichkeit im Politikbetrieb

  • Lesedauer: 4 Min.
Gerhard Anger ist Landesvorsitzender der Berliner Piratenpartei. Die zunächst belächelte Gruppierung mit dem Fokus auf Informationsfreiheit, Persönlichkeits- und Bürgerrechte konnte bei den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus überraschend 8,9 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen. Die Partei zieht nun mit einer 15-köpfigen Fraktion ins Hauptstadtparlament ein – darunter befindet sich nur eine Frau.

ND: Gerne sprechen die Piraten von einem Vakuum, das sie nach dem Einzug ins Berliner Abgeordnetenhaus füllen möchten. Geht es etwas konkreter?
Anger: Wir werden von Anfang an vollkommen offen sein, auch was unseren Lernprozess angeht, in dessen Verlauf wir natürlich auch viele Fehler machen werden. Über einen Blog werden wir beispielsweise detailliert über diese Annäherung an den parlamentarischen Betrieb berichten. Viele haben das Gefühl, in der Politik findet einiges statt, von dem man nichts weiß. Präsentiert werden Ergebnisse. Interessant finden wir aber nicht nur die Daten und Fakten, sondern auch den Entstehungsprozess von Entscheidungen.

Der parlamentarische Prozess wird ja dokumentiert, der Bürger kann sich bereits jetzt über die Mechanismen informieren. Sind Sie dann nicht einfach Amtsdeutsch-Dolmetscher?
Nein. Denn es geht nicht nur darum, wie die Abläufe technisch und juristisch geregelt sind. Wir wollen ja keine Fakten aus dem Abgeordnetenhandbuch zitieren, sondern Inhaltliches, Entscheidungsgründe und Entscheidungswege. So wie bei den Piraten, die öffentliche Mitgliederversammlungen haben und davon Livestreams senden, anhand derer man Diskussionen nachvollziehen kann.

Wir haben bereits eine Opposition, die den Anspruch hat, den Regierenden auf die Finger zu schauen. Wie wollen Sie sich von reflexhaften oder parteitaktisch motivierten Widersprüchen etwa der CDU unterscheiden?
Ich glaube nicht, dass wir in solche Reflexe verfallen werden. Es ist ja grotesk, dass im politischen Betrieb oft aus formalen Gründen Dinge bekämpft werden, die die jeweiligen Personen eigentlich vernünftig finden. Am besten wäre sowieso, wenn es die Piraten eines Tages nicht mehr geben müsste.

Glauben Sie, jenseits des momentanen Hypes Aufmerksamkeit erregen zu können. Oder erleben Sie gerade ihre fünf Minuten Ruhm?
Das hängt sehr von unserer Politik ab. Der Hype wird natürlich wieder abflauen – der wäre auch auf Dauer von uns gar nicht zu bewältigen. Zudem hat uns der Mangel an medialer Begleitung die letzten Jahre auch nicht an politischer Arbeit gehindert.

Werden Sie für Klaus Wowereit (SPD) als Regierenden Bürgermeister abstimmen?
Das hängt ganz von den Inhalten ab, die dann im Koalitionsvertrag stehen werden.

Die Piraten fordern vehement Transparenz im politischen Betrieb. Bald werden sie aber in Ausschüssen sitzen, von deren Mitgliedern Vertraulichkeit verlangt wird.
Im Zweifel werden die Mitglieder, die keine Geheimnisträger sein wollen, nicht in die Ausschüsse gehen. Aber natürlich werden wir schutzwürdige Informationen auch so behandeln.

Auch wenn die Piraten sie nicht als schutzwürdig begreifen?
Auch dann. In diesen Fällen wollen wir versuchen, das Reglement zu ändern.

Stört es Sie, als »Spaßpartei« bezeichnet zu werden?
Es ist nicht das Schlechteste, unterschätzt zu werden. Außerdem macht es vielen von uns auch tatsächlich einfach Spaß. Das ist doch besser, als den Job mit Bitterkeit zu erledigen.

Unter ihren Kandidaten gab es nur eine Frau.
In anderen Funktionen gibt es natürlich mehr Frauen bei uns. Eine Quote lehnen wir aber ab, da sie Schubladen erzeugt und oft nur eine Scheinlösung ist. Bei uns ist zudem nicht entscheidend, wer vorne steht.

Der Erfolg hat seinen Preis. Haben Sie genug Personal, um 15 Sitze im Abgeordnetenhaus sowie etwa 50 Sitze in den Bezirksverordnetenversammlungen (BVV) zu besetzen?
Möglicherweise bleiben einzelne Sitze in der einen oder anderen BVV leer. Ins Abgeordnetenhaus ziehen aber alle 15 Kandidaten auch ein. Die Listen wurden mit großem Ernst erstellt. Alle, die nun Verantwortung übernehmen, sind dieser auch gewachsen.

Macht der plötzliche Ruhm Spaß?
Eigentlich nicht. Denn viele Sachen, um die ich mich dringend kümmern müsste, bleiben momentan liegen.

Muss man Technikfreak sein, um sich bei den Piraten einzubringen?
Nein. Neben den Möglichkeiten im Internet stehen dem Bürger auch alle traditionellen Kommunikationswege zu uns offen. Auch wir haben Telefon, Fax und einen Briefkasten.

Fragen: Tobias Riegel

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