Vorbilder an der Schultafel

Hannover sucht Lehrer aus Zuwandererfamilien

  • Lesedauer: 3 Min.
Niedersachsens Kultusministerium in Hannover wirbt bei jungen Migranten für den Lehrerberuf. Bislang sind Lehrer mit Zuwanderungsgeschichte auch in Niedersachsen die Ausnahme.
Hannover/Berlin. Wenn Yüksel Yedek eine Klassenfahrt betreut, fühlen sich viele Mütter mit ausländischen Wurzeln wohler. »Die wissen, dass ich ihren Kulturkreis kenne und zum Beispiel auf den Kontakt der Mädchen mit Jungs besonders achte‹‹, sagt die 37-jährige Lehrerin der Göttinger Heinrich-Heine-Schule. Mindestens 80 Prozent der Schüler an der Hauptschule hätten einen Migrationshintergrund – wie sie selbst. ?Die Tochter türkischer Gastarbeiter ist die einzige Lehrerin mit Zuwanderungsgeschichte an ihrer Schule. Die niedersächsische Landesregierung in Hannover wünscht sich mehr Lehrer wie sie.

Der Anteil der Lehrkräfte mit ausländischen Wurzeln wird einer bundesweiten Studie zufolge jedoch nur auf vier bis sechs Prozent geschätzt. »Tatsache ist: Es sind zu wenig Pädagogen mit Migrationshintergrund«, sagt die Sprecherin des niedersächsischen Kultusministeriums, Corinna Fischer. Gerade sie könnten aber die Situation mehrsprachiger Eltern und Kinder nachvollziehen.
Bei den Schülern der Heinrich-Heine-Schule in Göttingen löst der Migrationshintergrund von Lehrerin Yedek offenbar ein Zusammengehörigkeitsgefühl aus. »Sie kennen das ja« – diese Worte höre sie oft von Schülern, erzählt die Lehrerin für Mathematik und Deutsch. Zum Beispiel, wenn es um den Spagat für viele Migrantenkinder geht: Zu Hause lebten sie nach Werten eines anderen Kulturkreises. »In der Schule und in der Freizeit ist dann plötzlich alles anders«, weiß die in Hildesheim aufgewachsene Yedek aus eigener Erfahrung. Ihre Eltern kamen schon vor ihrer Geburt nach Deutschland. Sie wuchs mit Ramadan und Opferfest, mit Weihnachten, Ostern und Pfingsten auf.

Ihr Wissen um Sprache und Kultur ihrer Schüler erleichtert auch den Kontakt zu den Eltern. Zum Beispiel beim Elternsprechtag: »Da kommen Väter und Mütter in die Schule und verstehen kein Wort. Aus Scham bleiben sie dann lieber zu Hause.« Yedek kann diese Sprachbarriere überwinden und Berührungsängste lindern. Auch Kollegen fragten sie immer wieder nach Unterstützung.
Lehrer wie Yedek sind Vorbilder für die Schüler, sagt Ministeriumssprecherin Fischer. Sie wirkten als Beispiel dafür, dass Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland eine gute Ausbildung absolvieren und erfolgreich im Beruf sein können. Ein Schülercampus in Oldenburg wollte bereits vor einem Jahr mehr jugendliche Zuwanderer für den Lehrerberuf begeistern. Gut 30 niedersächsische Schüler aus 13 Herkunftsländern erhielten dort Einblicke, und ein großer Teil von ihnen wolle nun tatsächlich Lehrer werden.

Für Ende November ist deshalb ein zweiter Schülercampus geplant, diesmal an der Universität Hildesheim. Auch das Netzwerk für Lehrkräfte mit Migrationshintergrund hat laut Fischer unter anderem das Ziel, mehr junge Zuwanderer für den Beruf zu gewinnen.
Yüksel Yedek hofft in Zukunft auf mehr Kollegen mit Zuwanderungsgeschichte, die wie sie Vertraute der Schüler werden. Allerdings müssen solche Vertraute die Jugendlichen auch manchmal überraschen, vielleicht sogar vor den Kopf stoßen: »Da waren einige Jungs der Meinung, mit 18 wird geheiratet, und dann bleibt die Frau selbstverständlich zu Hause.« Die Lehrerin hat deutlich widersprochen. Sie präsentiert ihnen einen anderen Lebensentwurf.

31 Prozent: Laut Statistischem Bundesamt stammen mittlerweile 31 Prozent der Minderjährigen in Deutschland aus Migrantenfamilien, in Großstädten sind es bereits 46 Prozent. Die Integrationsbeauftragte der Bundes, Maria Böhmer (CDU), erneuerte dieser Tage ihren Aufruf an die Länder, mehr Lehrer aus Zuwandererfamilien einzustellen. (epd/nd)
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