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»Fette dunkelblaue Wut«

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 5 Min.

Es beginnt mit einer Geburt - und endet mit einem Tod. Dazwischen: eine Geschichte, so spannend, dass man nicht davon lassen mag, so bewegend, dass sie einem lange im Kopf herumgeht und so fein gesponnen, mit so vielen Wendungen, so vielen Zufällen und Details, dass sie die 342 Seiten braucht, um sich so zu entwickeln. Gleichsam aus sich selbst heraus.

Ich glaube nicht, dass Kathrin Gerlof von vornherein alles geplant hat. Sie hat zwei Menschen vor sich gesehen, ein Ehepaar: Hanns und Veronika Grabowski. Den Anstoß mögen Leute gegeben haben, die sie kannte. Auch sie ist ja mal, wie Hanns, in der Redaktion der »größten sozialistischen Tageszeitung« tätig gewesen. Dann kam der Umsturz, alles änderte sich. Aus Erinnerungen und Eindrücken, Beobachtungen und Befürchtungen formten sich der Autorin Gestalten. Ihnen gewährte sie eine Selbstständigkeit, wie das nicht jeder Schriftsteller wagt.

Hanns und Veronika: kinderlose Ehe, Überdruss und Begierde. Diejenigen, die sie mal waren, sind hinter ihnen zurückgeblieben. Wenn sie früher irgendwie hofften, das Land warte auf ihre Auslassungen, selbst wenn es nur »Ein-bisschen-Wahrheiten« waren, sind sie jetzt an einem Punkt, wo es nur noch ums Geldverdienen geht. Kapitalismus, nackte Zahlung. Und kein Sinn, nirgends. Sie hangelt sich freiberuflich von einem Projekt zum nächsten - momentan Marketing für Haustierbedarf. Er war kurzzeitig »Schlagzeilenkönig« bei einem Boulevardblatt, lange arbeitslos, Sofalieger, Biertrinker. Immerhin wird er zu Beginn des Romans von einer Regionalzeitung als Lokalredakteur eingestellt, um über Biobauern, Chortreffen und entlaufene Ziegenböcke zu berichten. Nicht das, was er sich unter Journalismus vorstellt. Muss aus Berlin (und von Veronika) weg in eine fiktive Kleinstadt namens Frankenburg. Stephen King, denkt er, könnte sich hier eine Geschichte ausdenken über Leute, »deren Fernseher plötzlich anfängt, mit ihnen zu sprechen«. Bald überkommt ihn die Vorstellung, dass er auf diesem Marktplatz Amok laufen könnte, »mit fetter blauer Wut hinter den Augen und einem Jagdgewehr in der Hand«.

Da blinkt einem Tschechows Rat an Autoren auf: »Wenn ein Gewehr an der Wand hängt, muss es auch schießen.« Doch zu einem Amoklauf kommt es nicht, zumindest nicht im Rahmen dieses Romans. Nach Seite 342 setzt sich die Geschichte freilich ohne die Autorin fort. Wer weiß, was dann mit Hanns und Veronika passiert. Wird sie den Polizisten nehmen, der sich in sie verliebt hat, und er die dicke Marktfrau, um zwischen ihren großen Brüsten einzuschlafen? Finden sie wieder zusammen über Schuldgefühle und Vorwürfe hinweg? Denn ein junger Mann ist gestorben: Daniel, mit dem Hanns durch Zufall Bekanntschaft geschlossen hat und von dem Veronika schließlich glaubt, er könnte der Verfasser jener anonymen Briefe sein, die sie zwingen, eine verschlossene Kammer ihres Gedächtnisses zu öffnen ...

Nein, jetzt nicht weiter. Nicht zu viel verraten. Gewiss, es ist ein »Wenderoman«, handelt von ostdeutschen Verwerfungen, Nöten, Ängsten. Verunsicherung in vielen Varianten. Ohnmachtsgefühle mit sozialpsychologischen wie politischen Folgen. Die Penner, die neuen Ost-Unternehmer, die »Glatzen«, die intelligenten rechten Strategen - ein überaus präzises Stimmungsbild ist Kathrin Gerlof gelungen, bei dem sie scharfsinnig kühle Beobachterin bleibt, sich nicht hinreißen lässt zu Emotionen, die alles verdorben hätten.

Menschen werden durch Verhältnisse geprägt - das Wissen ist unsereins in Fleisch und Blut übergangen. So sehr, dass wir mitunter geneigt sind, alles den Verhältnissen anzulasten. Hanns und Veronika als durch äußere Umstände Gewordene. Erst seit 1989? Es kann für die Wirkung des Buches nur gut sein, beim Lesen das Schema vom typischen Charakter etwas aufzubrechen, den genau gezeichneten ostdeutschen Hintergrund wahrzunehmen, aber diesen Mann und diese Frau auch allgemein als Menschen zu sehen, die mit enttäuschten Erwartungen nicht zurecht kommen. Er leidet mehr als sie unter dem beruflichen Abstieg, der Kränkung seines Egos. Sie fühlt sich in umfassenderem Sinn unausgefüllt. Eine Totgeburt, sie bleibt ohne Kinder. Dass sie als 15-Jährige schon mal im Kreißsaal lag, sie hat es verdrängt, fast vergessen. Leise singt sie alte Volkslieder vor sich hin, Trost in uralter Trauer. Er denkt sich krasse Schimpfwörter aus und steigert sich in ein Farbenspiel: »dunkelblaue Wut«, um nicht in »violetter Trauer« zu versinken. »Pink- farbener Wahnsinn«, manchmal eine »orangene kleine Lust«.

Alles dermaßen glaubwürdig, schlüssig im »So kam es, so ist es«, dass der auf diese Weise mitgezogene Leser irgendwann aus eigenem Willen rufen mag: Halt! Dass er - und das liegt an der Kunst der sprachmächtigen Autorin - nach allem Verständnis für Hanns und Veronika zunehmend Distanz zu ihnen gewinnt. Beabsichtigt oder nicht, die Wirkung mag die einer psychologischen Gruppentherapie sein. Die Einfühlung in fremde Verrücktheiten kann einen klaren Kopf zur Folge haben: Nein, so geht es nicht, nein, so bin ich nicht! Ich muss mich aufraffen!

Zu Hanns und Veronika ist ein Kontrast gesetzt: Daniel, ein freundlicher junger Mann. So lernen wir ihn kennen, vielleicht mehr verunsichert, als wir wissen. Dass von diesem Jungen plötzlich nur noch ein starrer Körper bleibt - wie ging es zu? Wie hätte dieser Tod abgewendet werden können? Ist damit gar ein künstlerisches Urteil gesprochen, dass die Sanftmütigen, Hilfsbereiten sich nicht behaupten können gegen Hass und Dumpfheit, die allenthalben um sich greifen? Dass das Weiche das Harte besiegt, es hört sich gut an, aber seit Jesus wissen wir, dass der Gütige dem Gewalttätigen zunächst unterlegen ist. Zunächst. In der Kunst findet die Auferstehung in den Herzen der Leser statt.

Kathrin Gerlof: Lokale Erschütterung. Roman. Aufbau Verlag. 342 S., geb., 19,99 ?.

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