Frei wie ein Vogel sein

  • Martin Hatzius
  • Lesedauer: 4 Min.

Wie es beginnt, wie es endet - niemand wüsste das mit Bestimmtheit zu sagen, am wenigsten Erik, der Ich-Erzähler in Antje Rávic Strubels abgründigem Roman »Sturz der Tage in die Nacht«, in dem es ganz am Anfang heißt: »Es beginnt noch immer.« Dieser Anfang freilich ist schon ein Ende: Erik, Mitte zwanzig, steht an der Reling der Fähre, die ihn fortbringt von der kleinen Vogelschutzinsel vor Gotland, auf der er drei Monate verbracht hat. Drei Monate, die einen anderen Menschen aus ihm machten.

Was sich in diesem schwedischen Sommer zwischen schroffen Klippen, inmitten des Kreischens von Trottellummen und Tordalken zugetragen hat, versucht Erik auf der Fähre zu rekapitulieren. Aber die Anfänge dieser Geschichte, seiner Geschichte, reichen weit zurück in die Zeit der DDR. Als die aus der Wirklichkeit verschwand, war er gerade fünf Jahre alt. Ein Land, das aus den Erinnerungen anderer Menschen besteht.

Was Erik auf der Insel erfährt: Auch er selbst trägt verschwiegene, verdrängte und verleugnete Erlebnisse anderer, ihm unbekannter Menschen in sich. Im Vogelbiotop Stora Karsö laufen Fäden zusammen, die sich längst verloren zu haben schienen. Ungewollt, und lange, ohne es zu merken, wird Erik zum Helden einer beinahe antiken Tragödie, die Antje Rávic Strubel auf dieser abgeschiedenen Naturbühne inszeniert. Hinter dem abreisenden Erik schließt sich der Vorhang, der aus Ostseenebel gewoben ist.

Was als Tagesausflug geplant war, gerät zur endlosen Reise ins Innerste. Inez, Ornithologin und Touristenführerin, eine wetter-gegerbt-attraktive Frau Anfang vierzig, fasziniert Erik von der ersten, zufälligen Berührung an. Ihretwegen bleibt er viel länger als vorgesehen. Aber was heißt das schon, Vorsehung? Ein Mann mit geheimnisvoller Aura, der mit derselben Fähre kommt wie Erik - und ebenfalls bleibt -, entpuppt sich als Strippenzieher des scheinbar Schicksalhaften. »Wenn man es mit einem wie ihm zu tun hatte«, heißt es viel später im Roman, »gab es so etwas wie Zufall nicht«: Rainer Feldberg, jetzt Privatdetektiv, einst Hauptabteilung XVIII, langjähriger Freund des heutigen Brandenburger CDU-Bundestagskandidaten Felix Ton.

Dass Feldberg und Inez sich aus irgendeinem Vorleben kennen, merkt Erik schnell. Je näher er der Frau kommt, die ihn so anzieht, desto größer wird der Schatten, den Feldberg auf das Verhältnis von Inez und Erik wirft. Während das Paar sich arglos in Inez' Hütte umschlingt und vereint, ahnt man als Leser längst, was Feldberg weiß: Die sich dort lieben, sind Mutter und Sohn.

Ein metaphorisches Motiv, das sich durch den Roman zieht und in dessen Titel aufscheint, ist der Lummensprung. Gleich in der ersten Nacht auf Stora Karlsö nimmt Inez Erik mit zu den Klippen, wo sie Zeugen eines Naturschauspiels werden: Im Dunkeln, wenn die Möwen ihrer Nachtblindheit wegen als Fressfeinde ausscheiden, werfen die Trottellummen-Eltern ihre Küken aus dem Nest in die Tiefe. Weil die kleinen Körper gepolstert sind, tun sie sich nichts, wenn sie im Flug an die Felsen prallen und schließlich im Meer landen. Dieses Initiationsritual überstanden, lesen die Altvögel ihre Küken wieder auf - sie erkennen einander an den Stimmen - und sorgen weiter für sie. Inez hat ihren Sohn gleich nach der Geburt zur Adoption freigegeben, da war sie sechzehn. In der Wendezeit unternahm sie drei Versuche, ihr Kind zu finden. Aber die Räder der Behörde, die ihr dabei hätte helfen sollen, drehten damals alle durch. Danach strich sie das Wort »Sohn« aus ihrem Kopf. Ein Mensch ist keine Lumme.

Der Vater des Kindes ist Felix Ton, jener Freund und Auftraggeber des früheren Stasi-Manns Feldberg, den er auf Erik ansetzt, um im Wahlkampf mit einer menschelnden Medienkampagne aufwarten zu können: Glücklicher Vater wiedervereint mit verschollenem Sohn. Ein windiger Typ war dieser Felix schon immer, wie man aus den Rückblenden erfährt, die Antje Rávic Strubel zwischen Eriks Erzählung schiebt. Einer, dem jede Welle recht ist, wenn sie ihn in die richtige Richtung spült. Allein: Ein Mensch ist auch keine Welle.

Wie es endet? Es endet nicht. Rávic Strubels Tragödie verlässt die Romanbühne, trägt das Drama indes mit sich fort. Die Geschichte, die dieses Buch erzählt, ist unwahrscheinlich, aber deshalb nicht weniger wahr als der »Ödipus«. Keinen DDR-Aufarbeitungsroman hat die Autorin geschrieben, eher eine Parabel über den freien Menschen, der plötzlich gewahr wird, dass um ihn ein Käfig ist, aus dem er nicht fliehen kann. Es sei denn ...

Antje Rávic Strubel: Sturz der Tage in die Nacht. Roman. Verlag S. Fischer. 442 S., geb., 19,95 ?.

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