Der doppelte Dichter im Schnee

Christine Mielitz inszeniert in Wien die Uraufführung von Lera Auerbachs Oper »Gogol«

  • Roberto Becker
  • Lesedauer: 4 Min.
Einer von zwei Gogols: Otto Katzameier
Einer von zwei Gogols: Otto Katzameier

Es muss der Albtraum für ein Opernhaus sein, wenn kurz vor einer Uraufführung der Sänger der Titelrolle plötzlich gesundheitsbedingt ausfällt. Das ist der Stoff, aus dem die Geschichten gemacht werden, in denen ein Intendant auf den Herzinfarkt zusteuern, eine Komponistin entnervt abreisen und eine Regisseurin den ganzen Laden in einen hysterischen Ausnahmezustand brüllen könnte.

Im Theater an der Wien ist etwas in dieser Art jetzt passiert. Aber nur der erste Teil. Der Rückzug von Bo Skovhus von der Rolle des Dichters Gogol in der gleichnamigen Oper der Russin Lera Auerbach muss wohl zu einem Theater-Schock-Moment geführt haben. Am Ende der bejubelten Uraufführung wirkten sie allesamt zufrieden und demonstrativ entspannt. Der auf Erfolgskurs segelnde Intendant, Roland Geyer, hatte nämlich für das Auftragswerk Vollprofis zusammengebracht, für die die Wechselfälle des Theater-Lebens inspirierender Ansporn bei der Suche nach pragmatischen Lösungen sind. Und die sehen hier obendrein auch noch so aus, als wäre nie etwas anderes beabsichtigt gewesen.

Dass Christine Mielitz damit umgehen kann, verwundert natürlich nicht. Die Theaterfrau aus dem Osten ist mit allen Wassern gewaschen und hat, im Bunde mit ihrem Bühnenbildner Johannes Leiacker und der längst selbst als Opernregisseurin erfahrenen Arila Siegert für die sinnstiftend beigesteuerte Choreografie von Tänzertruppe und »Arnold Schoenberg Chor«, sogar den überzeugendsten Beitrag zu diesem Gesamtkunstwerk beigesteuert. Die Rolle des erwachsenen Dichters hat sie einfach auf zwei Sänger verteilt. Was durchaus der zerrissenen Persönlichkeit Gogols nahekommt. Lag der doch stets im Clinch mit sich selbst, fand nie aus seiner Einsamkeit als Mensch in eine Beziehung und hungerte sich schließlich, in religiösem Fastenwahn, 1852 mit 42 Jahren zu Tode. Martin Winkler und Otto Katzameier bewältigen diese Persönlichkeitsaufspaltung szenisch und vokal famos und halten obendrein als Duo auch noch ihrem dialektischen teuflischen Gegenpart Bes (Ladislav Elgr) und der Hexe Poshlust (Natalia Ushakova) stand.

Die 38-jährige Lera Auerbach blieb mit 17 Jahren, kurz vor dem Ende der Sowjetunion, bei einem Konzertgastspiel in New York. Als Autorin ist sie heute in ihrer alten Heimat ebenso geschätzt wie als Pianistin. Im deutschsprachigen Raum machte sie mit einem erstaunlich umfangreichen kompositorischen Werk immer wieder Eindruck. Ob in Berlin gerade mit der À-capella-Oper »The Blind« nach Maurice Maeterlincks symbolistischem Stück oder in Dresden als Komponistin in Residenz, wo sie an einem Dresden Requiem schreibt, das im Februar 2012, kurz vor dem nächsten Gedenken an die Bombennacht, in der Frauenkirche uraufgeführt wird.

Was sich die imponierend produktive Künstlerin zu Gogol ausgedacht, also zuerst als Theaterstück gedichtet, dann zum Opernlibretto verdichtet und schließlich vertont hat, ist keine Episodensammlung aus dem Leben des Erfinders der »toten Seelen«, des »Revisors« oder der »Nase«, sondern der Versuch, sich dessen vertrackter, verzweifelter Psyche zu nähern, seine Dämonen und erfundenen Gestalten zu beschwören, die russische Seele in Schwingungen zu versetzen. Das ist so modern und offen gedichtet wie eingängig und erstaunlich unmodern komponiert. Vergleicht man diese vital ausufernde, melodisch eingängige Musik mit ihren Ausflügen in die witzig groteske Überzeichnung, etwa mit Schostakowitschs »Nase«, käme man wohl nicht auf den Gedanken, dass »Gogol« Jahrzehnte danach geschrieben ist. Aber sei‘s drum. Was Vladimir Fedoseyev da mit dem ORF Radiosymphonieorchester aus dem Graben aufsteigen lässt, das ist eine sinnlich direkt zupackende, meist aufwühlende Musik, die sich ihrer Wurzeln zwar mehr versichert als ihr gut tut, aber im besten Sinne die Bühne füllt.

Und da trifft sie auf eine stilsicher mit russischen Assoziationen spielende Szene, die sich gleichwohl nie in tümelnder illustrierender Folklore verliert. Ganz gleich, ob da ein Fiedler über der Schneelandschaft Purzelbäume schlägt, russische Bräute wie im Märchenfilm aufmarschieren und den armen Gogol das Fürchten lehren, eine Prima Ballerina über die Szene schwebt oder sich die angekippte Schneelandschaft wie ein Höllenschlund (oder vielleicht doch eine Himmelspforte?) öffnet. Das hat alles souveränes Maß, kommt ohne übertriebene Motorik aus, beglaubigt alles aus der Musik. Es ist eine der überzeugendsten Inszenierung der ihres Intendantenpostens in Dortmund ledigen Regisseurin, die längst niemandem mehr irgendetwas beweisen muss.

Nächste Vorstellungen: 24., 26.11.

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