Lang geht man mit seinen Gedanken

Peter Kurzeck: »Vorabend« ist Teil eines riesigen Romanprojekts zur Erkundung der eigenen Zeit

  • Werner Jung
  • Lesedauer: 3 Min.

Da liegt er, der Klotz, Peter Kurzecks neuer Roman. Ein wahrer roter Ziegelstein, 1015 Seiten. Und das muss wohl auch so sein, denn der Leser stößt sogleich auf das Motto, Kurzecks Selbstermunterung, die er an verschiedenen Stellen seines Buches wiederholt, dass man »die ganze Gegend erzählen« müsse, die Zeit.

Es geht also ums Ganze, um nicht mehr und nicht weniger. Das Ganze heißt für Peter Kurzeck, dessen Roman »Vorabend« den fünften Teil einer auf insgesamt zwölf Bände angelegten Romanfolge mit dem Arbeitstitel »Das alte Jahrhundert« darstellt, die Beschäftigung mit der eigenen Biografie, hier nun insbesondere mit der Zeit der Jugend und des frühen Erwachsenwerdens in der oberhessischen Provinz.

Die Dörfer heißen Salzboden und Odenhausen, Fronhausen oder Wolfshausen, durch die das Kind stromert, später der Heimkehrende wandert, Staufenberg und Eschenhausen bilden den engen Rayon, in der Nähe dann die Städte Lollar und Gießen. Hier verbringt das Flüchtlingskind aus Böhmen, gemeinsam mit der älteren Schwester und der Mutter, über die Kurzeck sagt, dass sie nie ganz in der Bundesrepublik angekommen sei, eine eher beschaulich zu nennende Zeit. Wie überhaupt das Unaufgeregte, das Undramatische der Alltäglichkeit den Vorwurf für Kurzecks Prosa immer schon darstellt.

Sein Schreibprojekt kreist um die Erkundung der eigenen Zeit. Darin ist er durchaus vergleichbar mit Autoren der »Neuen Subjektivität«, die sich in den 70er Jahren durchgesetzt haben, etwa Hermann Lenz mit seinen Romanen über das alter ego Eugen Rapp, worin die Alltagsgeschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert thematisiert wird. Für Kurzeck bilden die Tätigkeiten des Gehens und des Schreibens ein enges Scharnier.

Der Erzähler Kurzeck - von seiner kleinen Tochter Carina, der der Roman gewidmet ist, Peta genannt - bewegt sich rückwärts. Wieder und wieder kehrt er in die alte Heimat unweit Frankfurts zurück, wohin er mit seiner Freundin Sibylle umgezogen ist, um sich ganz dem Schreiben widmen zu können.

Davon erzählt der Roman, sozusagen von einer langsamen Heimkehr, die Kurzeck in seiner eigentümlichen Prosa mit unvollständigen, häufig durch das Stilmittel der Ellipse charakterisierten Sätzen beschreibt. Palimpsestartig legen sich die verschiedenen Zeitschichten übereinander und nebeneinander; ein Zeitspektrum von rund drei Jahrzehnten wird schließlich abgedeckt: von den Hungerjahren nach dem II. Weltkrieg über die Wirtschaftswunderjahre bis in die Zeiten der Stagnation Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre ist die Rede, davon, wie die Dampflokzeit sich in eine der Automobilisierung und Leitplanken gewandelt und der hundertjährige Rauch aus dem Eisenhüttenwerk sich verzogen hat.

Kurzeck erzählt von sich und seiner Familie, über eine lange Strecke von seinem Schwager, der die längste Zeit bei Buderus geschafft hat und in seiner Freizeit an Radios bastelt; er erzählt von der Lebenswelt des Dorfes, von seinen geschwundenen Strukturen, schließlich immer wieder davon, dass und vor allem wie sich Zeit und Raum verändert haben innerhalb der eigenen Lebenszeit.

Am liebsten möchte er alles aufschreiben, alles festhalten, damit nichts - auch nicht das kleinste Detail - dem Vergessen anheim fällt. So will er dann auch die Zeit selbst einmal anhalten, dann sie wieder durch die Erinnerung beschwören und wiederherstellen. Am Ende wird dadurch ein gewaltiges Prosawerk, eine gigantische epische Totalität angestoßen, die die Proustsche Idee einer Suche nach der verlorenen Zeit auf grandiose Art wiederzubeleben versteht. Man darf sich als Leser auf die kommenden Bände freuen!

Peter Kurzeck: Vorabend. Roman. Frankfurt/M., Stroemfeld Verlag. 1015 S., geb., 39,80 €.

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