nd-aktuell.de / 13.01.2012 / Kultur / Seite 15

Kinder des Olymp

Sibylle Bergemann fotografierte das Berliner Theater RambaZamba

Kürzlich fiel mir ein »Magazin« vom Juni 1979 in die Hände, mit einem Text von Jutta Voigt über die Fotografin Sibylle Bergemann. Diese war Mitte der sechziger Jahre Sekretärin beim »Magazin« gewesen, hatte da die Fotografenlegende Arno Fischer kennengelernt, mit dem sie dann bis zu ihrem Tod 2010 verheiratet war (Fischer überlebte sie nicht einmal ein Jahr). Kurzentschlossen zog die Redaktionsmitarbeiterin eines Tages mit einem Fotoapparat los, probierte aus, ob sie das nicht auch selber könnte: Bilder einfangen, aus denen die Welt gemacht ist, in einer Weise, dass diese schließlich für sich stehen. Der Grundstein für ein großes Werk war gelegt.

»Schaffen wir das? Probieren wir es!« Diese Sätze sind in der jüngsten Produktion des Berliner RambaZamba Theaters »Lost Love Lost« zu hören - eine Shakespeare-Expedition als Selbsterkundung, ausgehend von »Der Sturm«. Probieren steht am Anfang jedes schöpferischen Prozesses. Man stößt immer wieder auf verschlossene Türen, sucht Schlüssel. Das ist auch der Alltag in Gisela Höhnes RambaZamba Theater. Alltag als Ausnahmezustand, in dem Chaos Ordnung gebiert, aber: eine höchst lebendige. Lauter Schauspieler mit Behinderungen proben den Aufstand gegen eine Welt, die nicht selten Vorurteile mit Vernunft verwechselt. Bei Shakespeare könnten wir lernen, dass das archaische Moment im Spiel der Glutkern aller Erkenntnis ist: Verwandlung.

Die elementaren Mächte des Lebens: Traum, Schmerz, Ohnmacht, Angst, Wut, Liebe, Eifersucht. Shakespeare und das RambaZamba scheinen mir besser zusammenzupassen als Claus Peymann und Büchners »Dantons Tod«. Das Schöne: Hier geht es immer um alles. Halbe Kraft reicht nicht. Was leuchten soll, verbraucht nicht nur Energie, sondern erzeugt sie auch. Viele der Schauspieler haben ein Down-Syndrom wie Gisela Höhnes Sohn Moritz. Lange Textpassagen sind unmöglich, das zwingt zur Konzentration auf das Notwendige. Alle sind mit unbedingtem Ernst im Spiel. Wer nach dem Ethos des Schauspielers in marktkonformen Zeiten sucht, wird hier fündig.

Theater spielen, seit fast zwanzig Jahren schon, ist für diese Truppe, so Gisela Höhne, nicht caritativer Akt, sondern tagtägliche Arbeit. Nicht zuletzt scheint mir das eine beneidenswerte Lebensform zu sein, immer auf Suche nach einem gelingenden Ausdruck, der das Gegenteil von Perfektion ist. Die eigene Behinderung mit ins Spiel hineinzunehmen, sie dadurch erfahrbar zu machen, das ist doch die elementarste Form der (Selbst-)Erkenntnis, eine ästhetisch schillernde zumal. Der Augenblick der Erkenntnis, so Kierkegaard, sprenge die Grenzen der Zeit, werde zum »Atom der Ewigkeit«. Um diese flüchtigen Ewigkeitsmomente geht es im Theater, selten liegen sie so offen und ungeschützt da wie bei den Spielern von RambaZamba.

»Lost Love Lost« hat Sibylle Bergemann nicht mehr sehen können. Seit 1997 fotografierte sie kontinuierlich bei RambaZamba. Die Insel-Konstellation dieser »Sturm«-Adaption, die weiter führt über »Hamlet«, »Othello« bis »Richard III.« hätte ihr gewiss gefallen. Ein Schiffbruch mit fantastischen Möglichkeiten! Ausgesetzt sein auf einer Insel, das macht Angst - und weckt ungeahnte Kräfte. Prospero (Sven Norman) ist in der Regie von Gisela Höhne (Dramaturgie: DT-Urgestein Hans Nadolny) ein in die Verbannung geschickter Theaterdirektor - nun strandet die Truppe ausgerechnet auf seiner Insel, die eigentlich Calibans Insel ist. »Die Hölle ist leer, alle Teufel sind hier.« Fluchtbewegungen sind nicht möglich, man muss Teil haben am Zauber der Verwandlung, darf die Hoffnung auf Rettung nicht verlieren.

Miranda, Prosperos Tochter, wurde mit der taubstummen Rosemarie Walter besetzt, die für die Inszenierung entdeckt wurde. Wenn sie dennoch Worte in ihrem Mund formt, dann klingt das wie ein von fernher geborgter Ton, halb holländisch, halb wie aus einer Legende der Vorzeit herauftönend. Das passt zu dieser Komödie der Missverständnisse - denn jeder hört nur, was in ihm eine Resonanz findet. Auch Hamlet oder Othello hören immer nur die Hälfte von dem, was sie hören müssten, um nicht misszuverstehen. Aber das öffnet auch spaltbreit Türen zu Unbekanntem - ohne Zutat des Zufalls entstünde nichts Neues. »Was für eine Insel in was für einem Meer«, lautete der Titel eines berühmten Bildbandes mit einem Text von Franz Fühmann und Fotos von Dieter Riemann über das Leben mit geistig Behinderten in den Samariter Anstalten Fürstenwalde Anfang der 80er Jahre. Fühmann gäbe sich immer mehr mit Geisteskranken ab, so dass er bereits deren Verhaltensweisen annehme, notierte der Staatssekretär im DDR-Kulturministerium Kurt Löffler in einem Bericht an das MfS. Man müsse über »Maßnahmen« nachdenken. So subversiv konnte es sein, mit Behinderten zu leben, jenseits der Lüge, die erst gesellschaftsfähig macht.

Betrachtet man Bergemanns Fotos, die sehr melancholisch, elegisch in ihrem Kunstwillen sind und dabei die Kreatürlichkeit des behinderten Menschen weder ausstellen noch verbergen, dann ziehen sie mit zarter Beharrlichkeit in Bann, gleichsam hinüber in eine fabelhafte Welt des Andersseins. Diese Bilder sind eine eigene Welt, deren Schönheit aus Erwartung erwächst, aus starker Sehnsucht, einem wachen Traum, der uns oft verrätselt und fremd, sogar bedrohlich vorkommt.

Rita Seredßus oder Juliana Götze, zwei der fotografierten Frauen, wirken in ihren Kostümen wie feenhafte Wesen, irgendwie entrückt und zugleich uns sehr schmerzvoll nahe kommend. Es ist, als wenn Ikarus nach seinem Sturz vom Himmel noch einmal, trotz aller Beschädigung, seinen Flug hätte beginnen dürfen. Welch heroisches Unternehmen!

Unter Bergemanns Fotos, die das »Magazin« damals druckte, waren auch gestürzte Engel, auf einem verfallenen Friedhof oder in einem verwilderten Park entdeckt. Daran muss ich denken, wenn ich nun im Katalog zum Theater RambaZamba blättere. Damals schrieb Jutta Voigt: »Immer, wenn sie einkaufen ging, sah die Fotografin die Engel am Boden liegend und unfähig, sich auch nur einen Zentimeter über die Erde zu erheben. Überirdische Schönheit zu unseren Füßen, und der Himmel so weit. Warum erschrecken uns gefallene Engel? Die Entzauberung ist doch ein Intermezzo, ein Interregnum, dokumentiert von einer Fotografin, die ihr Brötchennetz beiseite legte und das Bild machte. Irgendwann werden die Engel wieder über uns sein: unnahbar, himmlisch. Gewöhnlich.« Sie sind ja da, nicht über, aber unter uns.

Welch freudige Entdeckung, dass Jutta Voigt nun auch für den RambaZamba-Katalog einen Text schrieb, unsentimental, poetisch wie die Fotos von Sibylle Bergemann. Darin lese ich über die hier Porträtierten: »Kinder des Olymp, von allen guten Geistern verlassen, doch die Götter des Glücks sind bei ihnen, augenblicklich.«

  • Sibylle Bergemann und das Theater RambaZamba, Fotografien, Hg. von Ludwig Walter und Frieda von Wild anlässlich der Ausstellung »Ein Traum von Theater«, Verlag Theater der Zeit, 77 S., 10 Euro.
  • Ausstellung im Willy-Brandt-Haus, Wilhelmstr. 140, in Berlin-Kreuzberg: bis 28.1.
  • Vorstellungen von »Lost Love Lost« im Theater RambaZamba, Schönhauser Allee 36/39: 23. Januar 19 Uhr, 24. Januar 12 Uhr