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»Hinter jeder Tür eine Befragung«

Streng geheim: das einstige Notaufnahmelager Marienfelde und die Geheimdienste

  • Rainer Funke
  • Lesedauer: 4 Min.
DDR-Bürger hatten mehr mit, als in den (Denkmal-)Koffer passt.
DDR-Bürger hatten mehr mit, als in den (Denkmal-)Koffer passt.

Das Notaufnahmelager in Berlin-Marienfelde gab es zwischen 1953 und 1990. In dieser Zeit passierten nach offiziellen Angaben 1,35 Millionen Bürger der DDR das Areal auf ihrem Weg in den Westen. Für eine Weile wurden die Ankömmlinge im Lager untergebracht und versorgt. Sie mussten sich hier dem üblichen bürokratischen Verfahren für einen dauerhaften Aufenthalt in der Bundesrepublik oder Westberlin unterziehen.

Alle beteiligten Ämter hatten sich zu diesem Zwecke auf dem Gelände versammelt. Auch die westdeutschen und westalliierten Geheimdienste. Man wollte Spione aufspüren. Solche wie Günter und Christel Guillaume, die am 3. Dezember 1956 in Marienfelde anrückten und wohl zu den namhaftesten Gästen des Lagers geworden sind. Vor allem aber mühte man sich in Vernehmungen, möglichst vielen Problemen und Schwachstellen der DDR auf die Spur zu kommen. Auch das Ministerium für Staatssicherheit hat hier gearbeitet, allerdings undercover, ohne eigene Diensträume also.

In der Erinnerungsstätte Marienfelde wurde jetzt eine neue Veranstaltungsreihe namens »Streng geheim« begonnen. In fünf Folgen sollen die bislang eher wenig erforschten Bezüge zwischen Aufnahmelager und Sicherheitsbehörden beleuchtet werden. Geheimdienstkenner Erich Schmidt-Eenboom, der das Forschungsinstitut für Friedenspolitik im bayerischen Weilheim leitet, gab vor etwa 50 Besuchern den Auftakt. Marienfelde war das umfänglichste Lager seiner Art für Flüchtlinge und Übersiedler aus der DDR. Und damit auch das informationsträchtigste für die Geheimdienste. »Jede Tür eine Befragung«, versinnbildlicht und ironisiert man in der Erinnerungsstätte den Weg, den man mit dem Laufzettel in der Hand bewältigen musste - von der Aufnahme der Personalien bis zum Arzt und der Kommission, die über den Wahrheitsgehalt politischer Fluchtgründe befand. Und es gab viele Türen in dem Objekt.

Wenn man Pech hatte, geriet man bis zu sechs Mal in die Vernehmung, erst in die der westlichen Alliierten, dann in die von Bundesnachrichtendienst (BND) und Verfassungsschutz. Immer dieselben Fragen, nur mit unterschiedlichem Akzent, kommentierte ein Flüchtling. Andere äußerten, sie seien an Verhöre der Stasi erinnert worden. Dennoch haben viele in Marienfelde angekommene Leute kundgetan, was sie wussten. Auch das, was sie nicht wussten. Und zwar in der Überzeugung, dann tatsächlich politischer Flüchtling zu sein, weil sie dann von DDR-Behörden verfolgt werden würden. Manche mussten sich diesen Status allerdings erst vor höchsten westdeutschen Gerichten erstreiten.

So bekam man einen Wust von Informationen über die großen DDR-Betriebe, die NVA, die Gruppe der sowjetischen Streitkräfte und anderes mehr, was dann mit riesigem Aufwand verifiziert werden musste. Mit auch dann noch ungewissem Wahrheitsgehalt. In Westdeutschland hatten übrigens die deutschen Dienste den »Erstzugriff« auf den DDR-Bürger. Weshalb der Berliner Senat auch versuchte, manche aufgrund ihrer Position im Osten vielversprechende Leute noch vor dem Tor des Flüchtlingslagers abzufangen und direkt etwa in die BND-Zentrale »abzuschieben«.

Mit den Befragungen in Marienfelde und in Flüchtlingslagern anderswo trug man viele Details für das große geheimdienstliche Lagebild zusammen, wie Schmidt-Eenboom erläuterte. Es habe bei alldem jedoch keine Zusammenarbeit gegeben, nicht einmal ein Nebeneinander. Es habe sich eher um eine Allianz des Misstrauens gehandelt. Auch deshalb, weil man die Gelegenheit nutzen wollte, unter zeitweiligen Bewohnern des Aufnahmelagers fähige Leute für Gegenspionage-Missionen zu finden.

Zu denen, die eifrig die Ausgereisten in Marienfelde auszuforschen versuchten, gehörte auch ein gewisser Heinrich Lummer, später CDU-Innensenator von Berlin-West. Nach dem Studium stand er für ein Jahr in den Diensten des BND. Wenn man einen Bäcker befrage, der in der Nähe einer Kaserne sein Geschäft habe, wie viele Brötchen er tagtäglich gefertigt habe, dann könne man daraus auf die Truppenstärke schließen, erläuterte er später die Wichtigkeit seines Geheimdienst-Jobs. Der brachte ihm übrigens den Namen »James Bond von Zehlendorf« ein.

Übergelaufene Mitarbeiter des MfS (wie auch fahnenflüchtige sowjetische Offiziere »Nuggets« genannt) kamen nicht nach Marienfelde, sofern ihre Identität den Behörden bekannt war, sondern wurden sofort in einer Dahlemer Villa untergebracht. Von dort wurden sie gelegentlich bereits am nächsten Tag nach Westdeutschland gebracht. Wenn sie als besonders wichtige Geheimnisträger galten, befanden sie sich 24 Stunden nach Ankunft in Westberlin bereits in den USA, erinnerte sich ein Besucher der Veranstaltung im Museum.

Marienfelder Allee 66, 12277 Berlin, Tel.: 75 00 84 00, geöffnet Di.-So. 10-18 Uhr. Der Eintritt ist frei.

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