Dichter der Krise

Gunnar Decker beeindruckt mit einer opulenten Hesse-Biografie

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 6 Min.
Kirche Sant’ Abbondio in Collina d’Oro . Auf dem dortigen Friedhof befindet sich das Grab von Hermann Hesse
Kirche Sant’ Abbondio in Collina d’Oro . Auf dem dortigen Friedhof befindet sich das Grab von Hermann Hesse

Hermann Hesse starb am 9. August 1962. Da war er für westdeutsche Kritiker schon lange tot. Karlheinz Desch-ner, gerade am Anfang seiner Laufbahn als Provokateur, hatte ihn schon 1957 in einem List-Taschenbuch ins Lager der Kitsch-Fabrikanten und blassen Epigonen verbannt. Wer jetzt noch Gefallen am »Steppenwolf« fand, an »Siddhartha«, am »Glasperlenspiel«, machte sich verdächtig, keine Ahnung zu haben. Naserümpfen und mokantes Grinsen überall. Mit Hesse, befand in seinem Nachruf der Feuilletonchef der ZEIT, sei kein Blumentopf zu gewinnen. Er irrte sehr. Ein paar Jahre später holten ausgerechnet die Blumenkinder Amerikas den abgeschriebenen, in den USA völlig ignorierten Nobelpreisträger zurück und formulierten in seinem Namen ihren Protest gegen die verkrustete, bald in den Vietnamkrieg verwickelte Gesellschaft. Der Unzeitgemäße, nun gefeierte Held der Hippie-Bewegung, wurde plötzlich ein Weltautor, die Druckmaschinen in den USA und in Japan standen nicht mehr still, und auch bei Suhrkamp sorgte Hesse für Umsatzzahlen, die niemand für möglich gehalten hatte.

Dieser Boom, von Missverständnissen verursacht und begleitet, ist inzwischen Geschichte. Geblieben ist ein offenbar ungetrübtes, wenn auch nicht mehr so überwältigendes Leserinteresse. Nur im einflussreichen Feuilleton ist schon wieder das Stirnrunzeln Mode geworden. Die FAZ verwendete 2008, als die 20-bändige, von Volker Michels großartig edierte Ausgabe der »Sämtlichen Werke« fertig war, fast eine ganze Zeitungsseite für die Frage, wer denn vierzehntausend Seiten Hesse brauche, über Hesse scheine doch alles gesagt (woraufhin andere Blätter auf eine Würdigung der Edition gleich verzichteten).

Das mag angesichts der publizierten Hesse-Bände, Erinnerungen, Dokumentationen und der vielen vorliegenden Biografien plausibel klingen. Nur: Stimmt es auch? Die Zweifel behalten die Oberhand, und wer sich die Zeit nimmt, die neue, soeben im Hanser-Verlag erschienene Lebensbeschreibung zu lesen, wird auch bald wissen, warum.

Autor dieser Biografie ist Gunnar Decker, der schon vor Jahren seine genaue Kenntnis des Dichters in einer Reclam-Publikation unterstrichen hat, einem »Hesse-ABC«, das etwas später noch einmal, leicht ergänzt und mit neuem Titel, als Aufbau-Taschenbuch herauskam. Für ihn war Hesse nie der bloße Idylliker, der Schwärmer und Zeitenferne mit dem Weltschmerz, der harmlose Idealist und betuliche Trostspender, der Altmodische für eher biedere Gemüter. Er sieht in ihm den Dichter der Krise, einen Autor, der gar nicht so weltvergessen vor sich hinschrieb, wie mancher glaubt. Zu den Vorzügen dieser Biografie gehört, dass sie den Einsiedler, der sich alles Störende vom Leib hielt und hohe, schützende Mauern um seine Existenz baute, immer wieder erdet und die Fäden sichtbar macht, die ihn, trotz aller Fluchtbewegungen, an seine Zeit binden.

Hesse war ja schwer gezeichnet, der Hölle seiner Kindheit und Jugend mühsam entronnen, als er nach Tübingen kam, um Buchhändler zu werden. Er las, suchte die Rettung in der Literatur. Und er schrieb, von der Mutter auch jetzt zurückgestoßen, publizierte die »Romantischen Lieder«, den »Hermann Lauscher«, »Peter Camenzind«, schließlich »Unterm Rad«, die Geschichte des gepeinigten Hans Giebenrath, der alle Bitterkeit, das ganze Elend des frühen Hesse zu erdulden hat und im Wasser endet. Der Autor überlebte, weil er sich gefunden hatte und längst wusste, wo sein Platz war: in der Stille, fern vom Weltenlärm, dort, wo ihm die Autoritäten, die Anmaßungen und Zumutungen der Gesellschaft am wenigsten anhaben konnten.

So wurde Hesse der große Einzelgänger, ein scheuer Patron, der den Eigensinn lebte und kultivierte, der nur wenige an sich heranließ, sich einigelte, Besucher in Montagnola durch ein Schild an der Gartenpforte abwimmelte, der sich vor öffentlichen Auftritten fürchtete und 1946 nicht einmal nach Stockholm reiste, um den Nobelpreis entgegenzunehmen (seine verlesene Rede musste genügen). Auch Ninon, seine dritte Ehefrau, wurde - wie seine Frauen vorher - derart auf Distanz gehalten, dass sie sich unter die Räder wünschte. Briefe ersetzten den häuslichen Dialog. »Wie kann man so leben?« fragte sie 1949 im Tagebuch, vom Selbstmord nur einen winzigen Schritt entfernt. Mit suggestiver Kraft malt Decker das Psychogramm eines schwierigen, von Berührungsängsten beherrschten Menschen, für den im Grunde nur eines zählte: seine Arbeit.

Er sei kein Erzieher der Nation, hat Hesse erklärt, als man verhindern wollte, dass er die Preußische Dichterakademie verließ. Er hatte zu schreiben. »Meine Bücher«, betonte er 1928, »führen den Leser, wenn er willig ist, bis dahin, wo er hinter den Idealen und Moralen unserer Zeit das Chaos sieht.« Da, im inneren und äußeren Chaos, kannte er sich aus. Die Welt sei krank an Ungerechtigkeit, schrieb er. »Sie ist noch viel mehr krank aus Mangel an Liebe, an Menschentum, an Brudergefühl.« Inzwischen waren die Nazis an der Macht. Hesse, der seit 1912 in der Schweiz lebte, versagte sich jede öffentliche Stellungnahme. Er taugte nicht für die Tribüne, aber er machte aus seinem Abscheu, seiner Ablehnung jeglicher Gewalt kein Geheimnis. Er zögerte deshalb nicht, Flüchtlinge aus Deutschland bei sich aufzunehmen und ihnen in jeder Weise behilflich zu sein. Seine Antwort auf die Hitler-Herrschaft war ein Roman, sein letzter: »Das Glasperlenspiel«, das Buch, das eine geistige Gegenwelt entwarf, eine Provinz der Ordnung und der Ehrfurcht.

»Biographie«, schreibt Gunnar Decker, »soll weder vorsätzliche Bloßstellung noch bloße Hommage sein.« Er hat sich an den Vorsatz strikt gehalten. Er schließt vor Hesses Schwächen nicht die Augen, er denkt auch nicht daran, sie in mildes Licht zu tauchen, aber er denunziert nicht. Gerechter, respektvoller kann man mit dem Autor kaum umgehen. Die Balance ist bei Decker nie in Gefahr. Dabei weiß er jederzeit, gegen welche Vorbehalte, auch Vorurteile er anschreiben muss.

Keines der vielgelesenen Hesse-Bücher, dies nur als Beispiel, steht so unter Kitschverdacht wie die Erzählung »Narziß und Goldmund« von 1930, die Geschichte einer schwärmerischen Freundschaft vor mittelalterlicher Kulisse. Ein rationaler, asketischer Mönch der eine, der andere ein Sinnenmensch, der sein Künstlertum entdeckt. Das Ganze treibt in konventionellen Bahnen dahin, geht auch der Kolportage und den Klischees nicht aus dem Weg, und doch steckt hinter der eher banalen Konstruktion, hinter den erotischen Abenteuern und der überraschenden Verknüpfung von Liebe und Tod mehr, als die Oberfläche hergibt. Schon hier tauchen, wie Decker betont, Fragen auf, die die Rolle des Geistes in geistlosen Zeiten betreffen und dann in der »Morgenlandfahrt« und vor allem im »Glasperlenspiel« behandelt werden: »Soll man ein Kloster für freie Geister bauen, einen Schutzwall gegen die Welt? Brauchen wir einen Geheimbund der Eingeweihten, die die Welt vor ihrem Untergang retten?«

Schreiben war für diesen Dichter Lebensersatz. Und lesen ein Überlebensmittel. Darum auch die unendlich vielen Rezensionen, die Hesse veröffentlicht hat, all die Betrachtungen, die in der Ausgabe der sämtlichen Werke fünf starke Bände füllen. Die Suche nach den Gegenwelten, nach Antworten fürs Leben ging weiter, wenn er zu den Büchern anderer griff und darüber Auskunft gab. Decker räumt der Lektüre Hesses deshalb auch breiten Raum ein. Ohne seine Bibliothek und die Erfahrungen von Jahrhunderten, die in der Literatur aufgehoben sind, war dieser Autor nicht denkbar.

Es sind, Anmerkungen und Register mitgerechnet, stattliche 700 Seiten geworden. Umfassender ist das Leben Hesses noch nicht behandelt worden. Besser, kraftvoller, facettenreicher auch nicht. Dieses Buch ist ein großer, dichter, eindringlicher Lebensbericht, und einer seiner auffälligsten Vorzüge ist Deckers sprachliche Brillanz.

Gunnar Decker: Hermann Hesse. Der Wanderer und sein Schatten, C. Hanser. 703 S., geb., 26 €.

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