Biedere Deutsche, radikale Welt

Die sozialen Bewegungen der vergangenen Monate haben weltweit Veränderungshoffnungen ausgelöst

  • Roland Roth
  • Lesedauer: 6 Min.
Die Ereignisse des Jahres 2011 bringen die Erfahrung zurück, dass soziale Bewegungen und Proteste nicht nur überraschend zustande kommen können, sondern dabei kreativ ihre eigenen »neuen« Aktions- und Praxisformen erfinden. Doch was sind gemeinsame Elemente der transnationalen Aufbrüche und wie passen die Protestaktionen in der Bundesrepublik dazu?

1.1 »Geschichte wird gemacht!«

Biedere Deutsche, radikale Welt

Während das Gros der Mobilisierungen in den OECD-Ländern in den vergangenen Jahren durch den selbstbegrenzten Radikalismus der neuen sozialen Bewegungen bestimmt war, hat der »Arabische Frühling« an weiter reichende Veränderungsansprüche erinnert. Den Protestierenden geht es um die Überwindung autoritärer Herrschaft und um die fundamentale Umgestaltung ihrer blockierten Gesellschaften, in denen vor allem die jüngere Generation keinen Platz mehr gefunden hat.

Vor allem in den südeuropäischen Ländern ist zurzeit zu besichtigen, welcher enorme Veränderungsdruck durch die Bewegungen ausgelöst worden ist. In den Protesten, Asambleas und Camps von Madrid und Athen bis nach New York regt sich nicht nur Empörung und Widerstand gegen die Zumutungen der Banken, sondern es wird ein gesellschaftlicher Gestaltungsanspruch vorgebracht, der grundlegende Veränderungen einfordert: »utopia in our time!« Zu beobachten ist eine Wiederkehr utopischer, situationistischer und radikal kulturkritischer Motive, die bereits die Parole »Seid realistisch, fordert das Unmögliche« vieler 68er-Proteste geprägt hatten. Womöglich sind selbst kleinere Veränderungen - etwa bei den Finanzmarktkontrollen oder in der Besteuerung von Finanztransaktionen - nur dann erwartbar und durchzusetzen, wenn es radikale Protestbewegungen gibt, die weit über das pragmatisch Machbare hinausweisen.

1.2 Remoralisierung des Protests

Wenn Gerechtigkeitsvorstellungen auch in den OECD-Ländern Proteste stimulieren, dann ist dies in einem zunehmend moralfrei auftretenden Kapitalismus bereits eine enorme Leistung. Am deutlichsten wurde dies in den Sommerprotesten in Israel, als die Formel »Schweine-Kapitalismus« große Zustimmung fand - in einem Land, das Spitzenwerte in Sachen sozialer Ungleichheit und Kinderarmut zu verzeichnen hat. Aber auch die Verbreitung von Guy Fawkes-Masken und Robin Hood-Motiven bis hin zur Formel von den »99 Prozent« signalisieren, dass die jüngste krisenbeschleunigte Bereicherungsrunde von Superreichen als zutiefst unanständig und korrekturbedürftig angesehen wird. Gemeinsam ist den Protestmotiven eine Remoralisierung gesellschaftlicher Ungleichheit und die Drohung, dies nicht länger hinzunehmen.

1.3 Kapitalismuskritik reloaded

Dass die K-Frage zu einer Revitalisierung sozialistischer und kommunistischer oder auch nur sozialdemokratischer Ideen führen könne, zeichnet sich gegenwärtig nicht ab. Eher werden genossenschaftliche, kommunalistische und anarchistische Konzepte wiederentdeckt, ohne in einen Gesellschaftsentwurf, in eine »große Erzählung« eingebaut zu sein. Von wem und mit welchen Inhalten dieses Vakuum gefüllt werden wird, lässt sich gegenwärtig nicht beantworten. Aber es geht nicht mehr um jenen »selbstbegrenzten Radikalismus«, der für die Diskurse der neuen sozialen Bewegungen konstatiert wurde. Deren Bescheidenheit scheint heute unangemessener denn je.

1.4 »Echte« Demokratie - Democracia real ya!

Auch wenn die Camps und Massenversammlungen auf öffentlichen Plätzen, die zu einem Markenzeichen der jüngsten Protestwelle geworden sind, alles andere als neu sind, sondern in der einen oder anderen Form in fast allen sozialen Bewegungen präsent waren, scheint ihr kritischer Stachel dieses Mal tiefer einzudringen. Er zielt auf das Herz westlich liberaler Demokratien: auf die etablierten Formen politischer Repräsentation. Auf der Puerta del Sol in Madrid und an anderen Orten ging es den Bewegten des 15. Mai nicht nur um die demokratische Entscheidungsfindung unter Anwesenden oder um die Kritik an der fehlenden Berücksichtigung ihrer Interessen in der herrschenden Politik. Der Ausschluss von Parteienvertretern und die Weigerung, ihnen ein Forum zu bieten, waren mit der Forderung nach »echter« Demokratie verbunden. So unkonkret eine solche Losung zunächst erscheinen mag, so radikal verweigert sie gewählten Regierungen die demokratische Legitimation.

Auch die Weigerung, Sprecherinnen oder Sprecher hervorzubringen, Organisationen zu bilden oder Programme zu schreiben, gehört zu einem Politik- und Demokratieverständnis, das auf maximale Distanz zur »demokratischen« Elitenherrschaft gegangen ist.

1.5 Offene Räume, fluide Mobilisierungen

Soziale Netze und digitale Kommunikation haben nicht nur zu einer führerlosen, sondern auch zu einer weitgehend organisationslosen Mobilisierung beigetragen. Sicherlich zeigen sich bei genauer Betrachtung auch soziale Strukturen und Akteure, die den Protest erst ermöglicht haben. Im arabischen Raum etwa haben zivilgesellschaftliche Vereinigungen und Nachbarschaften erheblich zu den Massenprotesten beigetragen. Dennoch waren es nicht in erster Linie Bewegungsorganisationen, die, mit gemeinsamen Parolen und einer Agenda ausgestattet, für Mobilisierungserfolge gesorgt haben. Aufrufe in sozialen Netzen und Mikroblogging-Plattformen ermöglichen heute flash-mob-Mobilisierungen zu konkreten öffentlichen Orten, auf denen die Anwesenden ihre gemeinsame Agenda erst entwickeln und womöglich eigene Organisationsstrukturen hervorbringen.

Zugespitzt formuliert: Es wird nicht mobilisiert, um bestimmte Ziele zu erreichen, sondern um sie erst gemeinsam zu entwickeln.

1.6 Zivilität und ziviler Ungehorsam

Wie schon bei den Revolutionen des Jahres 1989 überrascht der überaus friedliche Charakter der Rebellionen und Proteste. Auch die Kriege und Bürgerkriege in Libyen und Syrien haben nicht zu einer Wiederkehr von Barrikadenromantik und Guerillafantasien im Westen geführt. Die Verknüpfung einer radikal-utopischen Agenda mit Zivilität ist zwar nicht gänzlich neu, durchaus aber die weitgehende Abwesenheit von Militanz und Gewaltfantasien, wie z.B. in den Occupy-Wall-Street-Mobilisierungen. Dies ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, wie schwierig es ist, offene Versammlungen auf Plätzen vor Provokationen zu schützen.

2. Soziale Bewegungen in Deutschland

Die internationalen Protestimpulse haben in Deutschland nur sehr schwache Resonanz gefunden. Aber auch in Deutschland hatte Protest - allerdings in anderen Themenfeldern - Hochkonjunktur: vor allem Ausstieg aus dem Ausstieg in Sachen Atomstrom und das milliardenschwere Großprojekt Stuttgart 21. Die Mobilisierungserfolge in Sachen Kernkraft beruhen auf einer Kombination mehrerer Faktoren. Zu den internen Bedingungen gehören ein mobilisierender Kern, ein Mindestmaß an organisatorischen Ressourcen und ein sensibilisiertes Umfeld von Aktivierbaren. Die Mobilisierungserfolge des Jahres 2011 beruhen zugleich auf einer partiellen Erfolgsgeschichte der Widerstandsaktionen seit den 1970er Jahren. Sie haben dazu beigetragen, dass heute in Deutschland realisierbare Energiealternativen vorhanden sind. Nicht zuletzt unterstützten die externen politischen Gelegenheitsstrukturen - eine schwächelnde Bundesregierung, eine Serie von Landtagswahlen, die Reaktorkatastrophe in Japan - den Mobilisierungserfolg.

Ähnliche Erfolgsbedingungen lassen sich für die Proteste gegen Stuttgart 21 ausmachen. Trotz der vielen lokalen Besonderheiten sowie der überaus langen und vielfältigen Mobilisierungen wird gerne übersehen, dass lokale Bürgerinitiativen seit Mitte der 1960er Jahre eine Grundform des Protests in Deutschland darstellen. In ihnen sind seit den 1970er Jahren in der Regel mehr Menschen aktiv als in Parteien. Im Gefolge von »S 21« setzte erneut eine verstärkte Aufmerksamkeit für Bürgerproteste gegen Infrastrukturprojekte ein, wie z.B. gegen die Fluglärmbelastungen durch Flughafenerweiterungen in Berlin oder Frankfurt am Main. Die wachsende Bereitschaft, über die beteiligungsorientierte Öffnung repräsentativer Strukturen nachzudenken, gehört zu den Erfolgen der Proteste in den letzten Jahren, auch wenn damit nur eine von vielen demokratischen Herausforderungen aufgegriffen wird.

Insgesamt liegt das Protestvolumen in Deutschland innerhalb Europas im oberen Bereich. Dies gilt jedoch nicht für soziale Themen und für Streikaktivitäten, die im weltweiten Vergleich äußerst gering ausfallen. Zum Scheitern verurteilt scheinen - nach den weitgehend erfolglosen Montagsdemonstrationen gegen Hartz IV - alle Versuche, die wachsende soziale Ungleichheit, prekäre Arbeitsverhältnisse, die Bildungs- und Ausbildungsnotstände oder Armut und Ausgrenzung zu mobilisierenden Themen zu machen. Die Liste solcher Themen, die es hierzulande nicht zum nachhaltigen Protest geschafft haben, ist lang. Eingeschränkte Bürgerrechte gehören ebenso dazu wie eine zuweilen autoritäre Staatlichkeit (etwa in der strafrechtlichen Verfolgung von zivilem Ungehorsam) oder krasse Formen des Staatsversagens (wie im Falle des »Nationalsozialistischen Untergrunds«), der demokratieferne Umgang mit den Finanz- und Haushaltskrisen oder die ausbleibende europäische Solidarität mit den Opfern der Sparauflagen einer Troika aus IWF, EZB und ausgesuchten EU-Staaten.

Solche Leerstellen, aber auch die schwache Resonanz auf die beschriebenen radikaleren und utopischen transnationalen Impulse passen in ein Bild eher biederer bundesdeutscher Politik. Diese Charakterisierung scheint auch für die Protest- und Bewegungspolitik zuzutreffen. In »normalen« Zeiten mag davon eine beruhigende Wirkung ausgehen, angesichts der »multiplen Krisen« unserer Tage wirkt sie allerdings eigentümlich hilflos.

Roland Roth ist Professor für Politikwissenschaft an der Hochschule Magdeburg-Stendal. Der Text basiert auf einem umfangreicheren Beitrag für das Forschungsjournal Soziale Bewegungen 1/2012.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal