Projekte des Übergangs

Marx und die Genossenschaftsbewegung

  • Axel Berger
  • Lesedauer: 6 Min.
2012 wurde von den Vereinten Nationen zum Jahr der Genossenschaften erkoren. UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon begründet diese Entscheidung mit der Verbindung von Wirtschaftlichkeit und sozialer Verantwortung, die die Genossenschaften der internationalen Gemeinschaft vorleben. »nd« begleitet das Thema das Jahr über.
2012 wurde von den Vereinten Nationen zum Jahr der Genossenschaften erkoren. UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon begründet diese Entscheidung mit der Verbindung von Wirtschaftlichkeit und sozialer Verantwortung, die die Genossenschaften der internationalen Gemeinschaft vorleben. »nd« begleitet das Thema das Jahr über.

An Philipp Rösler hätte Karl Marx seine Freude gehabt. Bei der Auftaktveranstaltung seines Ministeriums zum Internationalen Jahr der Genossenschaften verkündete der Bundeswirtschaftsminister, Genossenschaften erinnerten ihn stets daran, »dass Wirtschaftlichkeit und soziale Verantwortung vereinbare Ziele« seien. »Es sind zwei Seiten einer Medaille. Die Genossenschaft ist Vorbild der sozialen Marktwirtschaft, sie ist die gelebte soziale Marktwirtschaft«, so der FDP-Politiker weiter. Fast scheint es, als hätte Rösler eine Debatte beenden wollen, die tief in die Entstehung der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts zurückführt und sich konträr zu seinen Intentionen gerade um Perspektiven der möglichen Überwindung des Kapitalismus drehte. Immerhin hätte die Befürwortung der Genossenschaften ausgerechnet durch einen der Apologeten dieser Gesellschaftsordnung Marx’ teilweiser Skepsis gegenüber der Genossenschaftsbewegung gute Argumente liefern können.

Dabei hatten Marx und Engels selbst bereits im Kommunistischen Manifest auf die sozialen Grundlagen für die Bildung von Konsumgenossenschaften hingewiesen: »Ist die Ausbeutung des Arbeiters durch den Fabrikanten soweit beendigt, daß er seinen Arbeitslohn bar ausbezahlt bekommt, so fallen die anderen Teile der Bourgeoisie über ihn her, der Hausbesitzer, der Krämer, der Pfandleiher usw.« Was konnte da näher liegen, als der Bourgeoisie zumindest hier die Macht streitig zu machen? Und tatsächlich hatten sich bereits 1844 in der Folge gescheiterter Arbeitskämpfe, des repressiven Gewerkschaftsrechts und beeinflusst von den kommu-nistisch-genossenschaft-lichen Siedlungsideen des Frühsozialisten Robert Owen in England 28 chartistische Weber, die »Redlichen Pioniere von Rochdale«, zur ersten Konsumgenossenschaft der Arbeiterbewegung zusammengeschlossen und damit »das Modell für die spätere Genossenschaftsbewegung in ganz Europa« geschaffen, wie der Historiker Arno Mersmann festgestellt hat.

Überall in Europa und den USA folgten die entstehenden Arbeiterbewegungen dem Beispiel der Rochdaler Weber, deren Verein selbst innerhalb weniger Jahre auf einige Tausend Mitglieder anwuchs. In Deutschland sorgte vor allem die Allgemeine Deutsche Arbeiterverbrüderung von Marx’ langjährigem Weggefährten Stephan Born für den Aufbau genossenschaftlicher Kreditbanken, Produktivbetriebe und Ankaufsgenossenschaften, um wenigstens die »gemeinsame Beschaffung von Lebensbedürfnissen« für Arbeiter nach der gescheiterten Revolution von 1848 sicherzustellen. Wie distanziert Marx diesem Treiben allerdings gegenüberstand, kann man daraus ersehen, dass weder die von ihm herausgegebene »Neue Rheinische Zeitung« über die immerhin auf etwa 15 000 Mitglieder angewachsene Allgemeine Deutsche Arbeiterverbrüderung berichtete, noch sich in den Korrespondenzen von Marx oder Engels auch nur der kleinste Verweis auf die entstehende Genossenschaftsbewegung findet. Bereits vor dem Ausschluss Borns aus dem Bund der Kommunisten 1850 waren die Fäden zwischen der Genossenschaftsbewegung und den wenigen Getreuen der »Partei Marx« (Engels) endgültig zerschnitten. Borns Politik war auf Tagesinteressen gerichtet, Marx' Strategie auf die europäische Revolution. Aus diesen verschiedenen Ausgangspunkten rührte der Konflikt zwischen beiden, wie Born später in seinen Erinnerungen betonte: »Was kümmerten mich entfernte Jahrhunderte, wo jede Stunde nur dringende Aufgabe und Arbeit in Fülle darbot?«

Dass die Genossenschaftsidee zunehmend auch von bürgerlicher Seite kooptiert wurde - wie etwa später institutionalisiert im Falle der Schulze-Delitzschschen Handwerkereinkaufsgenossenschaften oder den Landwirtschaftsförderungsbanken des Friedrich Wilhelm Raiffeisen, die sich eher der Finanzierung kleiner und mittelständischer Betriebe verschrieben hatten, wird Marx’ Skepsis in Bezug auf das Genossenschaftswesen mutmaßlich noch gesteigert haben. Hinzu kam, dass auch die proletarischen Genossenschaften von der Krise der Arbeiterbewegung in den 1850er Jahren erfasst wurden und immer weniger Mitglieder binden konnten.

Dass sich Marx in den 1860er Jahren schließlich doch noch der Genossenschaftsidee zuwandte, hing mit zwei grundsätzlich veränderten politischen Voraussetzungen zusammen. Einerseits war nach dem endgültigen Scheitern aller revolutionären Bestrebungen deutlich geworden, dass die verbliebenen Kommunisten sich auf einen lang andauernden »Stellungskrieg« einzurichten hatten. Demgegenüber stand die Beobachtung eines deutlich sichtbaren Aufschwungs einer reformorientierten Selbstorganisation der Arbeiter vor allem in Deutschland und England. Dies galt nicht nur für die expandierenden Gewerkschaften, die Marx in die 1864 gegründete Internationale Arbeiterassoziation (IAA) zu integrieren suchte, sondern auch für die Genossenschaften, die sich zunehmend zur »dritten Säule der Arbeiterbewegung« (Klaus Novy) neben Partei und Gewerkschaft entwickelten. Ein Blick auf Deutschland verdeutlicht diesen Aufschwung. Der erst in den 1860er Jahren gegründete Dachverband, der »Allgemeine Verband der deutschen Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften«, hatte 1871 bereits fast eine Viertelmillion Mitglieder und verzeichnete einen Umsatz von 57 Millionen Reichsmark. Um die Jahrhundertwende waren es dann schon 500 000 Mitglieder und nur fünf Jahre später wurde die Millionengrenze übersprungen.

Die Kopplung dieser beiden Faktoren gipfelte in den von Marx formulierten »Forderungen der IAA«, einer Art Manifest der II. Internationale, das auch eine Öffnung gegenüber den Reformbestrebungen der Arbeiter signalisierte. »Wir anerkennen die Kooperativbewegung als eine der Triebkräfte zur Umwandlung der gegenwärtigen Gesellschaft, die auf Klassengegensätzen beruht«, heißt es darin fast emphatisch. »Ihr großes Verdienst besteht darin, praktisch zu zeigen, dass das bestehende despotische und Armut hervorbringende System der Unterjochung der Arbeit unter das Kapital verdrängt werden kann durch das republikanische und segensreiche System der Assoziation von freien und gleichen Produzenten.« Konsequenterweise empfahl Marx daher auch eher die Bildung von Produktions- als Konsumgenossenschaften. Allerdings seien diese »niemals imstande, die kapitalistische Gesellschaft umzugestalten«, sondern könnten lediglich als Antizipation von Verhältnissen verstanden werden, deren finale Umgestaltung er weiterhin als politischen Akt der Machteroberung durch das Proletariat fasste - ein Aspekt, den er nach den Erfahrungen der Pariser Kommune auf die »Zerstörung der Staatsmacht« hin modifizierte.

Systematischer noch arbeitete Marx diese Sichtweise in seinen Arbeiten zum 3. Band des »Kapital« aus. Wenn schon nicht die Konsumgenossenschaften, so seien die Kooperativfabriken doch »als Übergangsformen aus der kapitalistischen Produktionsweise in die assoziierte zu betrachten«, heißt es hier. Und an anderer Stelle schriebt er: »Es ist dies die Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise selbst und daher ein sich selbst aufhebender Widerspruch, der auf den ersten Blick als bloßer Übergangspunkt zu einer neuen Produktionsform sich darstellt. (...) Es ist Privatproduktion ohne die Kontrolle des Privateigentums«, was allerdings keineswegs mit dem »unmittelbaren Gesellschaftseigentum« des Kommunismus verwechselt werden dürfe. Vor allem müsse »die Sache so eingerichtet werden, dass die Gemeinschaft das Eigentum an den Produktionsmitteln behält und so die Sonderinteressen der Genossenschaft, gegenüber der Gesellschaft im Ganzen, sich nicht festsetzen können«, worauf Engels in der Erklärung der Passage nochmals gegenüber August Bebel eindringlich hinwies.

Dass die signifikanten Aufschwünge der Genossenschaftsidee und ihrer diversen Umsetzungen nicht nur zu Marx’ Zeiten, sondern auch nach den gescheiterten Weltrevolutionen von 1917 bis 1920 bzw. 1968 und gegenwärtig in Form der Diskussionen um die Commons bzw. Gemeingüterwirtschaft wieder verstärkt zu beobachten waren und sind, scheint Marx’ Überlegungen, die Genossenschaften als Projekte des Übergangs oder mindestens Überwinterns in nichtrevolutionären Zeiten zu betrachten, zu bestätigen. Einer der letzten relativ breit rezipierten marxistischen Theoretiker, Robert Kurz, hat noch vor wenigen Jahren einen Rückgriff auf Konsumgenossenschaften als »entkoppelte Sektoren der Reproduktion« für eine emanzipatorische »Antiökonomie und Antipolitik« jenseits der staatlichen Vermittlung vorgeschlagen. Ob daran allerdings nach der Integration der Genossenschaften in den kapitalistischen Normalbetrieb - häufig genug auch im Sinne der Elendsverwaltung - noch festgehalten werden kann, darf bezweifelt werden. Das wusste letztlich auch Marx schon. Denn solange die Warenform nicht abgestreift sei, müssten die Kooperativfabriken zwangsläufig »alle Mängel des bestehenden Systems reproduzieren«.

Das, offensichtlich, gefällt zumindest einem: dem Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler.

Karl Marx: »Die Kooperativfabriken liefern den Beweis, dass der Kapitalist als Funktionär der Produktion ebenso überflüssig geworden, wie der Kapitalist selbst [...] den Großgrundbesitzer überflüssig findet.«
Karl Marx: »Die Kooperativfabriken liefern den Beweis, dass der Kapitalist als Funktionär der Produktion ebenso überflüssig geworden, wie der Kapitalist selbst [...] den Großgrundbesitzer überflüssig findet.«
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