Arbeitsmarkt ist zerfleddert

Bernd Riexinger (ver.di) sieht kaum Chancen ohne Auffanggesellschaft

  • Gesa von Leesen
  • Lesedauer: 3 Min.
Fast alle Landesregierungen wollten die Transfergesellschaft für 11 000 von Entlassung bedrohte Schlecker-Mitarbeiterinnen, doch sie kommt nicht. Die Betroffenen werden nun bald ihre Kündigungsschreiben erhalten.
Der Geschäftsführer des ver.di-Bezirks Stuttgart ist Sprecher der LINKEN Baden-Württemberg.
Der Geschäftsführer des ver.di-Bezirks Stuttgart ist Sprecher der LINKEN Baden-Württemberg.

nd: Die Schlecker-Transfergesellschaft ist an der FDP gescheitert. Was heißt das für die Liberalen?
Riexinger: Die Eins-Komma-X-Prozent-Partei schrumpft noch weiter.

Warum setzten die Gewerkschaft ver.di und die betroffenen Frauen auf die Transfergesellschaft?
Aus zwei Gründen: Erstens, damit diejenigen, die entlassen werden, nicht sofort in die Arbeitslosigkeit fallen und eine Chance auf längeren Bezug von Transfergeld und Qualifikation bekommen. Zweitens geht es um den Fortbestand von Restschlecker, um die 15 000 Mitarbeiterinnen, die bleiben. Ohne Transfergesellschaft werden viele der Entlassenen, vielleicht die Mehrheit, eine Kündigungsschutzklage einreichen, um eine Abfindung oder eine andere Sozialauswahl zu erreichen. Das dürfte einen potenziellen Investor abschrecken.

In der Regel laufen solche Gesellschaften ein Jahr lang, für Schlecker war nur ein halbes Jahr geplant. Wäre das nicht nur ein teures Trostpflaster gewesen?
Natürlich ist ein Jahr besser. Ich vermute, das halbe Jahr hängt damit zusammen, dass bei Schlecker einfach kein Geld da ist.

In einer Insolvenz wird ein Massekredit, wie ihn die Kreditanstalt für Wiederaufbau geben will, vorrangig bedient. Dass dafür eine Bürgschaft verlangt wird, ist höchst ungewöhnlich. Traute man also dem Fortführungsplan des Insolvenzverwalters nicht?
Das war meines Erachtens nicht der Hintergrund. Es ging darum, dass nach den ersten drei Monaten nach der Insolvenzanmeldung - und die sind jetzt vorbei - der Insolvenzverwalter auf eigene Haftung weiter wirtschaftet.

Das machen viele Insolvenzverwalter in der Republik - ohne staatliche Bürgschaften.
Ja, aber Schlecker ist ein Sonderfall. Das Unternehmen wurde ja wie ein kleiner Familienbetrieb geführt. Bis heute haben wir nicht für alle Bereiche aussagekräftige Unterlagen. Die Grundlagen bei Schlecker sind anders als in halbwegs seriös geführten Betrieben.

Wie bewerten sie die - jetzt gescheiterten - Aktivitäten des baden-württembergischen Finanzministers Nils Schmid (SPD)?
Ich bin ja kein besonderer Freund dieser Landesregierung. Aber in dem Fall hat sie und Nils Schmid im Besonderen eine gute Rolle gespielt. Er hat sich früh stark gemacht für ein staatliches Engagement. Ich glaube auch, es hatte gut gewirkt, dass wir von ver.di früh gesagt haben, Arbeitsplätze im Handel dürfen nicht anders behandelt werden als Arbeitsplätze in der Industrie. Ich finde es selbstverständlich, dass der Staat sich da engagiert. Was können die Schlecker-Frauen denn dafür, dass ein Familienpatriarch ein Milliardenunternehmen so schlecht und unkontrolliert führen durfte?

Was erwarten Sie von der Landesregierung nach dem Scheitern der Transfergesellschaft?
Das Scheitern macht mich erst mal hilflos. Was soll man noch von Regierenden halten, die ohne mit der Wimper zu zucken 11 000 Frauen in die Arbeitslosigkeit schicken?

Ist mit dem Scheitern der Transfergesellschaft auch das Genossenschaftsmodell vom Tisch?
Nein. Die Genossenschaft käme dann ins Spiel, wenn für eine Fortführung Opfer von den Beschäftigten verlangt werden. Das machen wir nur mit, wenn dafür die Frauen am Betrieb beteiligt werden. Und auch für eine echte Genossenschaft bräuchten wir staatliche Anschubfinanzierung, denke ich. Denn von Verkäuferinnengehältern kann man nichts holen.

Wie beurteilen Sie die Chancen der Entlassenen?
Die jüngeren Kolleginnen haben größere Chancen. Aber der Arbeitsmarkt im Einzelhandel ist sehr zerfleddert. Ob die Frauen Jobs bekommen, von denen sie leben können, also nach Tarif bezahlt und in Vollzeit, würde ich in Frage stellen. Und viele der Frauen müssen erst mal lernen, wie man eine Bewerbung schreibt, wie man einen Lebenslauf zusammenstellt, wie man ein Vorstellungsgespräch angeht - das darf man nicht als Selbstverständlichkeit voraussetzen. Auch dafür wäre die Transfergesellschaft wichtig.

Fragen: Gesa von Leesen

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