Michal, spiel uns das »Lied vom Tod«!

Vom Turm der Marienkirche oder von unter der Erde aus betrachtet - Kraków ist eine ganz besondere Stadt

  • Heidi Diehl
  • Lesedauer: 7 Min.
Michal, spiel uns das »Lied vom Tod«!

Ordnung muss sein! Auch wenn Michal Kołton an seinem Arbeitsplatz 54 Meter über der Stadt meistens ganz allein ist. Sekunden vor jeder vollen Stunde schaut der 27-Jährige auf die Uhr, setzt akkurat seine Feuerwehrmütze auf und streicht die blaue Uniform glatt. Erst dann greift er die blitzblank polierte Trompete und öffnet das südlichste Fenster des höheren der beiden Türme der Krakówer Marienkirche und bläst das Hejnał, die bekannteste Melodie Polens, in Richtung Wawel, wo Könige regierten, gekrönt und beerdigt wurden, und der heute ein nationales Heiligtum ist. Das Trompetensignal wiederholt sich in alle vier Himmelsrichtungen. Hunderte Zuschauer unten auf dem Rynek Glówny starren fasziniert hinauf, winken, klatschen, versuchen einen Schnappschuss von dem Mann, der ihnen das »Lied vom Tod« spielt, doch mitten im Spiel bricht die Melodie abrupt ab. Das Schauspiel wiederholt sich Stunde um Stunde, Tag für Tag, Jahr für Jahr. Michal wechselt sich dabei mit sechs anderen ab, jeder von ihnen hat 24 Stunden Wachdienst. Und das im doppelten Sinne: Schlaf ist nicht drin, und der Strazak Hejnałista (Feuerwehrbläser) ist so etwas wie der höchste Wächter über das Wohl der Stadt. Seit Jahrhunderten nun schon.

Was nicht immer ein ungefährlicher Beruf gewesen sein soll. Denn dass die Melodie, die vor Feuer und Angreifern warnen sollte - und die seit dem 16. April 1927 (mit Ausnahme der Zeit der faschistischen Besetzung der Stadt) jeden Mittag um zwölf landesweit übers Radio übertragen wird - auf dem Höhepunkt abbricht, soll an den Mongolenangriff von 1241 erinnern, bei dem der Trompeter mitten im Spiel von einem Pfeil getötet wurde. So zumindest erzählt es die Legende, an die selbstverständlich jeder Pole fest glaubt.

Dreimal die Woche kann ab Anfang Mai, wer Lust und Luft hat, die 200 steilen wie schweißtreibenden Stufen zum Turm hochsteigen, sich die Legende auch zwischen den vollen Stunden vom diensthabenden Feuerwehrmann erzählen lassen. Wie Michal sind alle anderen Bläser Feuerwehrleute, die, nach einer musikalischen Zusatzausbildung ihren Dienst vorwiegend auf dem Turm der Marienkirche ausüben. Auch Michals Großvater und Vater waren schon Strazak Hejnałista, noch nie zuvor gab es eine solche Familientradition, worauf der junge Mann natürlich sehr stolz ist. Wer weiß, vielleicht wird seine zweijährige Tochter sie einst fortführen, was wiederum ein Novum wäre, denn noch nie blies eine Frau das Hejnał.

Vom ungewöhnlichsten Arbeitsplatz Krakóws kann man einen ebenso außergewöhnlichen Blick auf die Stadt genießen. Wie winzig wirkt auf einmal der Rynek Glówny, der 700 Jahre alte Hauptmarkt. 200 mal 200 Meter misst die Bühne der Stadt und ist damit der größte mittelalterliche Platz Europas, der von prächtigen Gebäuden der unterschiedlichsten Baustile aus mehreren Jahrhunderten umsäumt ist. Für diese Kulisse vergab die amerikanische Non-Profit-Organisation »Project for Public Spaces«, die sich seit 30 Jahren für die Revitalisierung des urbanen öffentlichen Raums stark macht, 2005 Platz eins in der Kategorie »Bester Platz der Welt«.

Am Rynek Glówny tobt das Leben. Und das rund um die Uhr. Nicht nur Touristen und Studenten sitzen hier in den Straßencafés, man kann auch den katholischen Geistlichen, der gerade noch in der Marienkirche im Minutentakt Menschen aller Altersgruppen die Beichte abnahm, in seiner »gewerkschaftlichen« Pause im Caféhausstuhl sitzen sehen, ein Bierchen zischend und schönen Frauen nachschauend.

Unterirdisches Leben

Lassen wir ihm das Vergnügen, gehen wir hinein in die Marienkirche mit ihren zwei unterschiedlich hohen Türmen, deren größte Attraktion nicht vor, sondern hinter der steinernen Kulisse liegt - das Meisterwerk des berühmtesten Bildhauers und Schnitzers der Spätgotik, Veit Stoß. 1477 kam der aus Nürnberg nach Kraków, wo er in zwölf Jahren aus Eichen- und Lindenholz den elf mal 13 Meter großen Hauptaltar der Kirche schnitzte. Jede der mit Farben und Blattgold veredelten Figuren aus Baumstämmen, die damals schon 500 Jahre alt gewesen sein sollen. Für die Polen war dieser Altar immer eine Art Nationalheiligtum, und deshalb bauten sie ihn auch schnellstens ab und versteckten ihn, als Hitler ihn ganz weit oben auf seine Kunstbeuteliste setzte. Erst in den 50er Jahren kehrte der Altar unversehrt an seinen Platz in die Marienkirche zurück.

Jeden Tag 11.50 Uhr öffnet eine Nonne die Flügel des prachtvollen Altars. Ist diese würdevolle Zeremonie schon des Ansehens wert, den Altar selbst sollte man sich ganz genau und in Ruhe angucken: Denn während die Jungfrau Maria dem mittelalterlichen Ideal weiblicher Schönheit entspricht, tragen die Apostel nur allzu menschliche Züge, die Stoß fotografisch exakt modelliert hat - geschwollene Venen an den Füßen, von Arthritis deformierte Hände oder eine Warze auf der Nase. Wunderbar!

Direkt gegenüber der Kirche, auf der anderen Marktseite, liegen die im 14. Jahrhundert erbauten Tuchhallen mit ihren schönen Arkaden, wo einst edle Stoffe und kostbares Salz gehandelt wurden. Handeln ist heute nicht mehr, aber kaufen - Bernsteinschmuck und Lederwaren, Kitsch und Kunst. Vier Meter unter den Hallen öffnete im September 2010 Krakóws jüngstes Museum, das Rynek Podziemny (unterirdischer Marktplatz). Hier wandelt man auf der Ebene, auf der die Stadt bis zum 13. Jahrhundert lag. Weil die Weichsel immer wieder für Überschwemmungen sorgte, legte man sie dann einfach auf ein rund vier Meter höheres Niveau. Vielerorts hat man in den vergangenen Jahrzehnten sich wieder auf die Ursprungshöhe hinabgebuddelt. So erklären sich auch die angeblich 400 Kneipen im Stadtzentrum. Die meisten liegen nämlich unter der Erde. Hier tobt vor allem abends das Leben. Dann swingt und jazzt es überall unter der Stadt. Zu den angesagtesten Adressen gehört das »Piano Rouge« direkt am Hauptmarkt, wo nicht nur allabendlich Live-Jazz vom Feinsten, sondern auch polnische kulinarische Spezialitäten serviert werden.

Salziger Reichtum

Apropos Kulinarik: Ausprobieren sollte man unbedingt eine typisch polnische Erfindung, die Milchbar (bar mleczny), die es in vielen Orten gibt. Das Selbstbedienungsrestaurant hat unschlagbar günstige Preise (z. B. neun große Piroggen mit Fleischfüllung für 2,50 Euro), das Essen ist stets frisch zubereitet und schmeckt zumeist wie bei Mama. Professoren sieht man hier genauso wie Arbeitslose und Studenten.

200 000 der etwa 750 000 Einwohner der Stadt sind Studenten. Die 1364 von König Kasimir dem Großen gegründete Jagiellonen-Universität ist nicht nur die älteste Polens, sondern gehört auch zu den ältesten weltweit. Die Einwohner lieben ihre jungen Mitbürger auf Zeit, und nicht wenige von denen verlieben sich während des Studiums derartig in die Stadt, dass sie für immer bleiben.

Längst gilt Kraków als Polens Kulturhauptstadt, nicht nur wegen der vielen prachtvollen architektonischen Schätze, die dem gesamten Zentrum den Titel UNESCO-Weltkulturerbe einbrachten, sondern wegen der vielen Theater, Galerien und Museen. Hinzu kommt die in Europa einzigartige Jazzszene, die Künstler aus aller Welt anzieht. Gleiches gilt für die Klezmermusik, die hier in Kraków lebendig wie eh und je ist und die Bedeutung der Stadt als ehemaliges Zentrum jüdischen Lebens in Europa unterstreicht.

Besonders im Stadtteil Kazimierz waren die Juden zuhause. Von den einst 60 000 jüdischen Bewohnern der Stadt überlebten nicht einmal 4000 den Holocaust. Die meisten wurden im nur 45 Kilometer entfernten Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau ermordet. Steven Spielberg setzte den Krakówer Juden mit seinem weltweit bekannten Spielfilm »Schindlers Liste«, der zu Teilen in Kazimierz gedreht wurde, ein Denkmal. Nachdem der Stadtteil in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr in der Bedeutungslosigkeit verschwand, hat er sich jetzt zum angesagten Szeneviertel entwickelt, in der die jüdischen Traditionen wieder gepflegt und gelebt werden.

Wer wissen will, wodurch Kraków in den vergangenen Jahrhunderten so reich wurde, findet eine Antwort im zehn Kilometer südlich der Stadt gelegenen Salzbergwerk Wieliczka. Seit dem 13. Jahrhundert wurde hier Salz abgebaut, heute ist der Komplex von Hunderten unterirdischen Abbauräumen mit 300 km labyrinthartigen Wegen auf neun Ebenen ein Gesamtkunstwerk mit einer Vielzahl von unglaublichen Sehenswürdigkeiten aus Salz - sogar Altäre, Fußböden und Kronleuchter. Seit 1978 gehört Wieliczka zum UNESCO-Weltkulturerbe.

  • Infos: Polnisches Fremdenverkehrsamt, Kurfürstendamm 1, 10709 Berlin, Tel: (030) 210 09 20, www.polska.travel/de
  • Marienkirche: geöffnet Montag bis Samstag 11.50 bis 18 Uhr, Sonntag 14 bis 18 Uhr, Besichtigung Hauptaltar 6 Zloty; der Turm ist offen von Mai bis September Dienstag, Donnerstag und Samstag 9 bis 11.30 und 13 bis 17.30 Uhr, Eintritt: 5 Zloty
  • Gedenkstätte KZ Auschwitz: www.auschwitz.org.pl
  • Salzbergwerk Wieliczka: www.kopalnia.pl
  • Literatur: Krakau, Dumont direkt, ISBN 978-3-7701-9564-0, 9,99 €; Krakau, Marco Polo, ISBN 978-3-8297-0612-4, 9,95 €
Der 27-jährige Michal Kołton ist stolz darauf, die Familientradition als Hejnałista fortführen zu dürfen. Geschwollene Venen an den Füßen, von Arthritis deformierte Hände oder eine Warze auf der Nase - nichts menschliches war Veit Stoß fremd, als er den Altar für die Marienkirche schnitzte.
Der 27-jährige Michal Kołton ist stolz darauf, die Familientradition als Hejnałista fortführen zu dürfen. Geschwollene Venen an den Füßen, von Arthritis deformierte Hände oder eine Warze auf der Nase - nichts menschliches war Veit Stoß fremd, als er den Altar für die Marienkirche schnitzte.
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