Herzschäden für saftige Gewinne

Auftakt des Prozesses gegen den Pharmakonzern Servier

  • Andrea Klingsieck, Paris
  • Lesedauer: 3 Min.
Ein Diabetes-Medikament soll in Frankreich hunderten Patienten den Tod gebracht haben. Gegen die Verantwortlichen laufen zwei Strafverfahren.

Am Montag begann in Nanterre bei Paris der erste Strafprozess gegen den französischen Pharmakonzern Servier, der das Medikament Mediator entwickelt und vertrieben hat. Firmengründer Jacques Servier und vier ehemaligen Führungskräften wird »schwerer Betrug« vorgeworfen. Sie sollen die Gefährlichkeit des Diabetes-Medikaments vertuscht haben. Das Präparat kostete viele Menschen das Leben. Den Angeklagten droht bis zu vier Jahre Haft. Der zweitgrößte französische Pharmakonzern könnte seine Lizenz verlieren. Mehr als 350 Geschädigte und Hinterbliebene verlangen als Nebenkläger Schadensersatz.

Der 90-jährige Jacques Servier folgte dem Prozess regungslos. Nach wie vor betont er, sich keiner Schuld bewusst zu sein.

Dem Konzern wird vorgeworfen, die Patienten nicht über die Gefährlichkeit von Mediator informiert zu haben. Servier hatte das Präparat Mitte der 1970er Jahre auf den Markt gebracht. Eine eigene Untersuchung von 1993, die geheim gehalten wurde, belegt, dass ein Bestandteil des Medikaments vom Körper in Norfenfluramin umgewandelt wird - einen aktiven Metaboliten, der eine Verdickung der Herzklappen auszulösen kann. Norfenfluramin enthielten auch die Appetitzügler Ponderal und Isoméride des Konkurrenten Schreiber, die aus diesem Grund 1997 verboten wurden. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hätte Servier klar sein müssen, mit dem lukrativen Medikament das Leben der Patienten aufs Spiel zu setzen. Erst nachdem eine Ärztin den Skandal aufdeckte, wurde Mediator Ende 2009 verboten.

Die Folgeschäden sind umso dramatischer, als das Medikament nicht gegen Diabetes verschrieben wurde, sondern viel öfter als Appetitzügler. Fünf Millionen Franzosen haben die gefährlichen Pillen geschluckt. Nach einer Studie der Aufsichtsbehörde für Medikamentensicherheit tötete das Medikament in Frankreich mindestens 500 Patienten; andere Schätzungen gehen von bis zu 2000 Toten aus. 3500 Patienten mussten im Krankenhaus behandelt werden. Hunderte leiden noch heute unter schweren Herz- und Kreislaufproblemen.

Der Konzern beharrt darauf, von der Gefährlichkeit des Präparats nichts gewusst zu haben. Zudem sei das Diabetes-Mittel nie für den Einsatz als Appetitzügler bestimmt gewesen. Drei klinische Studien aus den Jahren 1968 bis 1973, die bei einer Durchsuchung des Firmensitzes gefunden wurden, heben jedoch nach Informationen der Wochenzeitung »Journal du Dimanche« die »ausgezeichneten Ergebnisse« des »Appetitzüglers« im Rahmen von Schlankheitskuren hervor.

Im ersten Strafprozess in Nanterre soll nur dem Vorwurf des »schweren Betrugs« nachgegangen werden. In einem zweiten Verfahren wird gegen Jacques Servier wegen »Betrugs«, »Körperverletzung« und »fahrlässiger Tötung« ermittelt. Die Verteidigung hat beantragt, den Prozess bis zum Ende dieser Ermittlungen auszusetzen. Dann dürfte der Prozess für einen Teil der gesundheitlich angeschlagenen Nebenkläger zu spät kommen. Das Strafgericht von Nanterre will dennoch in der kommenden Woche seine Entscheidung bekannt geben.

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