Zehn Tage Sylt

Kerr-Preis: Hinrichs

  • Anika Stralau
  • Lesedauer: 2 Min.
Fabian Hinrichs
Fabian Hinrichs

Siebzig Minuten lang, rennt der Schauspieler Fabian Hinrichs über die riesig weite Berliner Volksbühne, assistiert von einem Trupp jugendlicher Turner. Hinrichs nennt sie seinen »Chor«, endlich mal kein proletarischer, das habe sich erledigt - wie sich so Vieles erledigt hat, das hier in Requisit- und Arrangementandeutungen Grabesgrüße schickt: Schleefs »Sportstück«-Massenbilder, dann Brechts Couragewagen mit Drehbühne (Hinrichs zieht den Karren in Marketenderkleid). Der Turntrupp ist dem Schauspieler Sofa, Klettergerüst, dieser Chor verkör pert das zeitgenössische Gesicht des Kapitalismus, »du bist ein Netzwerk«, das den Einzelnen in seine Fänge zu ziehen sucht.

»Kill Your Darlings! - Streets of

Berladelphia«, Autor und Regisseur René Pollesch, nominiert fürs Theatertreffen, wo Hinrichs nun den Alfred-Kerr-Darstellerpreis bekam (Solo-Jurorin: Nina Hoss). Hinrichs redet rennend, lola-like, zu charmant forcierter Popmusik, er sitzt auf einem Minibagger, mit Kapuze überm Kopf, oder er hampelt in einem viel zu großen Krakenkostüm herum. Ein fortwährender Monolog über die Sehnsucht nach »Nähewelt«; hier rast ein Mensch, halbnackt, über eine leere Bühne, und es ist doch ein Dschungel aus Abhängigkeiten, Liebesentzügen, Isolationsfrösten, »zehn Tage Sylt im Nieselregen, das war doch sooo langweilig!«; hier fleht einer Wärme herbei; hier erzählt einer mit großem Unglückswitz von der noch größeren Glückshumorlosigkeit des ganz gewöhnlichen Lebens.

Einmal regnet es, Chor und Hinrichs tanzen, rutschen, rauschen, jagen minutenlang über den nassen, glatten Boden, wie die Tänzer in Wim Wenders »Pina«. Das Schönheitsbild schlechthin. Gruppentuscheln unterm Planwagen. Der Schauspieler - von sportiver Unermüdlichkeit, von kindlich regelloser Bewegungslust, von augenzwinkernder Laberlaune - wühlt sich laufend, japsend in die Vehemenz eines lauten Selbstgesprächs, das rauswill, das also Gespräch mit anderen werden will. Dieser Junge leidet an der Welt, aber die völlige Selbstdisziplinierung in den Verhältnissen gelingt ihm nicht, das ist der große Trost seiner vergeblichen Kapitalismus-Anklagen.

Das, was uns im Innersten antreibt und was nur immer auf platonischen Stimmbändern singt, schreit, jubelt, fleht und predigt - wir können es nicht wirklich umsetzen ins Sagbare. In Spiel schon. Hinrichs spielt betörend.

#ndbleibt – Aktiv werden und Aktionspaket bestellen
Egal ob Kneipen, Cafés, Festivals oder andere Versammlungsorte – wir wollen sichtbarer werden und alle erreichen, denen unabhängiger Journalismus mit Haltung wichtig ist. Wir haben ein Aktionspaket mit Stickern, Flyern, Plakaten und Buttons zusammengestellt, mit dem du losziehen kannst um selbst für deine Zeitung aktiv zu werden und sie zu unterstützen.
Zum Aktionspaket

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal