Der Befreiungsschlag

Flattersatz von Matthias Wedel

  • Lesedauer: 3 Min.
Der Befreiungsschlag

Heute Morgen im Zug saß ich mit der Zeitung in der Hand. Eine Frau, die immer in Bernau aussteigt, weil sie in der Shopping Mall eine Toilette betreibt, fragte mich: »Hat Norbert Rödel schon zum Gegenschlag ausgeholt?« Ich blätterte im Politikteil. »Nö«, sagte ich. »Schade«, sagte die Frau, »nun verbringt man doch den ganzen Tag in Ungewissheit«.

»Sie dürfen auch nicht nach ›Gegenschlag‹ suchen, sondern müssen ›Befreiungsschlag‹ eingeben«, sagte die Frau, die immer Gesundbrunnen aussteigt und auf ihrem rechten Unterarm die Tätowierung einer komplette Notenzeile mit acht Noten hat (wahrscheinlich »Winds of Change« von den Scorpions). Aber das »nd« hat noch keine Google-Suchfunktion.

Tatsächlich hat Röttgen uns für diese Woche einen »Befreiungsschlag« versprochen. Man macht sich Sorgen: Wie unfrei ist der Mann wirklich? Hat ihn die Kanzlerin im Reichstag in den Gemüsekeller gesperrt, damit er nicht redet? Nein - das Empfinden der Unfreiheit, sagen Psychologen, geht einher mit einer blutigen Verletzung des Selbstwertgefühls, vulgo »Beleidigung«. Man darf das durchaus physisch verstehen: Einer der Wenigen, die Röttgen in den letzten Tagen gesehen haben, sein alter Freund Wolfgang Bosbach, selbst mit zahlreichen talkshowfähigen Krankheiten gesegnet, berichtet: »Er ist nicht mehr er selbst. ›Norbert‹, rief ich ihn auf dem Korridor an, denn so heißt er doch. Aber er blickte sich gehetzt um, als sei ein Norbert hinter ihm her.« An dem Tag, als die Kanzlerin Norbert am Rande der Kabinettsitzung beiseite nahm und »Du bist gefeuert« zu ihm sagte, nicht ohne ihm »Alles Gute auf deinem weiteren Lebensweg« zu wünschen, soll der R. so »durch den Wind« (Bosbach) gewesen sein, dass er die Unterhose über der Anzughose trug. Er wollte, noch ganz der Vorzeige-Öko der CDU, mit dem Fahrrad nach Hause fahren. Aber Bosbach hat schnell am Tor angerufen, damit sie ihn nicht durchlassen und in eine Karosse der Fahrbereitschaft setzen. Sonst wäre Schlimmes passiert - vielleicht hätte die Kanzlerin ihn überfahren lassen. Bosbach ging dann am Abend in eine Talkshow und sagte über seinen Freund Norbert: »Ich würde ihn nicht mit der Kneifzange anfassen.« Das hielt er wahrscheinlich für eine warmherzige Sympathie- und Solidaritätserklärung - und wahrscheinlich ist es das im politischen Berlin sogar. Leider ist sie semantisch uneindeutig: Würde der Wolfgang den Norbert nun gar nicht mehr, nicht einmal mehr mit der Kneifzange anfassen? Oder würde er, entgegen seiner bisherigen Gewohnheit, von jetzt an keine Kneifzange mehr benutzen, um ihn anzufassen? Man weiß es nicht.

Was man wohl ahnt: Röttgens »Befreiungsschlag« soll eine Entlarvung von Frau Merkel werden, soll offenbaren, welches zweifelhafte moralische Korsett die Kanzlerin unter ihren harmlosen Hosenanzügen trägt, kurz, soll uns sagen: Die Frau ist eine Sau!

Es geht um jenen denkwürdigen Dreier, den Merkel, Seehofer und Röttgen in einem verschwiegenen Reichstags-Kabinett hatten. Seehofer hat über die Begegnung schon im ZDF geplaudert: Die beiden wollten Röttgen bewegen, so zu tun, als würde er nach verlorener NRW-Wahl in Düsseldorf bleiben. »Da hat er uns abtropfen lassen«, erinnerte sich Seehofer. Daraufhin soll die Merkel zu Röttgen gesagt haben …

Wir werden es wohl nie erfahren. Denn Röttgen hat seine Ankündigung des »Befreiungsschlages« inzwischen zurückgezogen. Dabei kann man sich den Satz der Kanzlerin doch an allen fünf Händen ausmalen: »In der Kantine gibt es heute Mittag Gurkensalat.«

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