Auf dem Weg zur Demokratie 2.0?

Chancen und Risiken der Internetgesellschaft

  • Benjamin Winkler
  • Lesedauer: 5 Min.

Als im Frühjahr 2011 der tunesische Diktator Ben Ali nach mehrmonatigen Massenprotesten zurücktrat und damit die erste Welle des arabischen Frühlings ihren Erfolg feierte, trugen DemonstrantInnen Schilder mit der Aufschrift »Merci Facebook!«. Hierin zeigte sich symbolisch die Bedeutung der sozialen Netzwerke für die Proteste und Demonstrationen der Millionen Menschen in der arabischen Welt. Mit Hilfe des Internets gelang es den Akteuren, die staatliche Überwachung und Kontrolle zu überwinden und damit der Zensur in Rundfunk und Printmedien zu begegnen.

Auch in den westlichen Ländern veränderte das Internet die politischen Prozesse und Strukturen. Einen ersten Höhepunkt bildete die Wahlkampfkampagne 2008 von Barack Obama in den USA. Über das Internet vernetzten sich Tausende von UnterstützerInnen, sammelten Spenden für den Wahlkampf und verbreiteten Botschaften und Inhalte an die WählerInnen. Anders als bei den vorherigen Kampagnen gelang es, die Menschen direkt einzubeziehen und somit deren Partizipationsanspruch und die Möglichkeiten des Internets zu verbinden.

In Deutschland und anderen europäischen Ländern versuchten zahlreiche PolitikerInnen und Parteien auf ähnliche Weise, Politik neu zu erfinden, wenn auch mit geringerem Erfolg. Der Einzug der Piratenpartei in vier Landtage zeigt, dass auch hierzulande viele Menschen Interesse am Thema haben und sich neue Politikformen wünschen. Die Piratenpartei setzt dabei nicht nur auf netzpolitische Schwerpunkte, sie organisiert sich ebenso über das Internet und nutzt etwa mit »Liquid Feedback« Werkzeuge für direkte Beteiligung und Entscheidung durch die Mitglieder.

Das Internet besitzt für immer mehr Menschen einen Nutzen, weit über Unterhaltung und Information hinaus. Über soziale Netzwerke können nicht nur private Informationen ausgetauscht werden, es können auch Diskussionen geführt und Veranstaltungen, beispielsweise Demonstrationen, organisiert werden. Als im Frühjahr 2012 Tausende junger Menschen gegen das internationale Piraterieabkommen ACTA in mehreren deutschen Städten auf die Straße gingen, hatten sie zumeist keine Partei oder Organisation im Hintergrund, sondern vernetzten und organisierten sich via Facebook und Twitter.

Auch seit langem bestehende Beteiligungsformen, wie beispielsweise Bürgerhaushalte, Petitionen, Protest-Kampagnen und Planungsverfahren, erhalten durch das Internet neue Beliebtheit und Möglichkeiten. Während zu Analogzeiten oftmals komplizierte Verfahren eingehalten werden mussten, zudem sich Formulare nicht im Netz fanden, gibt es heute übersichtliche, leicht zu handhabende Plattformen, die ihren NutzerInnen umfangreiche Beteiligungsmöglichkeiten bieten. Hier haben BürgerInnen die Möglichkeit, ihre Vorschläge und Ideen einzubringen, diese mit den PolitikerInnen zu diskutieren und schließlich darüber zu entscheiden. Die Verfahren variieren von Gemeinde zu Gemeinde, von Portal zu Portal. Die für solche Prozesse notwendige Transparenz und der freie Zugang zu Informationen und Wissen (z.B. Förderverfahren) werden von immer mehr Kommunen bereitgestellt. Spätestens seit Bestehen der Enthüllungsplattform »Wikileaks« ist bekannt, dass Transparenz notfalls über Inter-netaktivistInnen hergestellt werden kann.

Auch für die Arbeitswelt ergeben sich neue Möglichkeiten. Die Zukunft der Arbeit liege in der »Cloud«, sagen die Visionen der IT-Branche. Anstatt im Büro zu arbeiten, könnte man zukünftig von zu Hause aus Aufträge erledigen und gemeinsam mit den KollegInnen via Internet diskutieren. Über die »Cloud« ist man permanent vernetzt. Das Ende der Lohnarbeit in weiten Teilen leitet den Übergang zum Siegeszug des Freelancers ein.
Betrachtet man die Entwicklungen und die sich daraus ergebenden Möglichkeiten für die zukünftige Gesellschaft, vergisst man leicht, einen Blick auf die empirischen Tatsachen zu werfen.
Der Zugang zum Internet ist ähnlich ungleich verteilt, wie der Zugang zu Wissen, Bildung und die Verteilung des gesellschaftlichen Wohlstandes. Menschen, die über einen guten Bildungsabschluss verfügen, ein mittleres oder hohes Einkommen beziehen und zudem in der Stadt wohnen, haben deutlich bessere Möglichkeiten, die Potenziale des Netzes zu nutzen. Was man in der Fachsprache »digitale Spaltung« nennt, meint einen ungleichen Zugang zur Infrastruktur des Netzes (z.B. Breitbandnetze) sowie bestehende Hürden in den Variablen Alter, Bildung, Wohnort und Wohlstand. Ganze Regionen und ganze Gruppen von Menschen sind davon bedroht, durch das rasante Tempo des digitalen Wandels abgehängt zu werden. Während auf der einen Seite private Dienstleister, Parteien und Verbände ihre Internetportale ausbauen, sind sie in der Fläche immer seltener vertreten und verlieren damit den Kontakt zu den BewohnerInnen.
Auch ist das Medium Internet selbst nicht per se demokratisch. Die Infrastruktur des Netzes befindet sich mehrheitlich im Besitz großer Telekommunikationskonzerne und wird von diesen kommerziell genutzt. Die mitgliederstärksten und wichtigsten sozialen Netzwerke wie Face-book, Google und Twitter haben ihren Sitz in den USA und sind alles andere als transparent organisiert. Millionen Mitglieder haben ihre persönlichen Daten an diese Konzerne überstellt, welche wiederum damit Umsätze machen und die Daten teilweise beliebig weitergeben. Dagegen scheint die nationalstaatliche Datenschutzgesetzgebung häufig machtlos zu sein.
Sowohl die Debatte zum Urheberrecht als auch die Visionen einer neuen Arbeitswelt zeigen, dass die digitale Entwicklung häufig ohne Kenntnis der realen Produktions- und Verwertungszusammenhänge gedacht wird. Eine einseitige Abschaffung des Urheberrechts zugunsten einer kostenlosen Nutzung der Produkte von KünstlerInnen und Kulturschaffenden verdammt diese zu einem noch mehr prekären Leben, wenn gleichzeitig alternative Modelle zur Existenzsicherung oder gar die Abschaffung des Eigentumsprinzips unberücksichtigt bleiben. In der »Cloud« der modernen Arbeitswelt drohen schließlich noch stärkere Abhängigkeitsmuster aufzutreten, da den modernen Freelancern jegliche Formen der kollegialen Vernetzung und gewerkschaftlichen Organisierung genommen werden. Die Ökonomisierung der Lebenswelt schreitet voran.
Das Internet und der digitale Wandel werfen Widersprüche auf, die bereits vor deren Existenz und Verbreitung bestanden. Zugleich werden neue Möglichkeiten geschaffen, die in der Tat das Potenzial für mehr Demokratie und freie Zugangsformen enthalten. Zur Bekämpfung der digitalen Spaltung, des Datenmissbrauches und des ungleichen Zugangs der Menschen zum Netz braucht es eine spezifische linke Netzpolitik, die sich den Widersprüchen der kapitalistischen Gesellschaft und ihren Prinzipien von Eigentum und Verwertung nicht verstellt.

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