Stunde der Puppenspieler

Das Staatsballett Berlin macht die Komische Oper zu »The Open Square«

  • Volkmar Draeger
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Vorstellung beginnt schon im Foyer der Komischen Oper. Mit Bärtchen geschminkte Teenager befragen Zuschauer, machen Fotos von ihnen. Auch der Tänzer an der Rampe fotografiert, verstaut seine Polaroids vom Geschehen im Saal in einer Truhe. Ungewohnt persönlich scheint der Abend zu starten. Michael Banzhaf tritt ans Mikro, sagt, er gehöre seit 14 Jahren dem Staatsballett an, tanze heute seine 700. Vorstellung. Und redet sich in Rage: Sklaven seien die Tänzer, am Gängelband des Choreographen, als Künstler nicht geachtet. Derweil betreten Kollegen, Unisex in Hose, Hemd und Schlips, die Szene; ein Schuss hinterlässt eine Tote. Banzhaf stoppt das Chaos und fordert, noch mal von vorn anzufangen. Kündigt den Maestro an, fragt noch spitzzüngig, ob wir nicht alle bloß Marionetten seien.

Dies hat Itzik Galili, weltweit erfolgreicher Choreograph aus Israel, als Exposition für seine Uraufführung »The Open Square« erdacht. Noch eine Weile glaubt man, Tanztheater zu sehen, als die Tänzer in farbglitzernden, wulstigen Tutus ihr klassisches Exercice exekutieren, wobei permanent jemand ermattet zu Boden sinkt. Also doch Marionetten? Die nächste Szene bestärkt diesen Eindruck: Ein maskierter Mann wird von einem anderen an Stäben vorwärtsdirigiert, dabei ausgezogen. Gleißendes Licht fällt dem Zuschauer in die Augen, bis ein Kreis aus Kerzen eingerichtet ist. Zum Klang von Glöckchen regt sich eine Liegende, räkelt sich schier wirbellos in alle Richtungen, elektrisiert von der Musik.

Weitere Akteure finden sich zum asiatisch inspirierten Spiel mit Lichtern, die sie an Leinen in der Hand halten: ein geheimnisvolles Irrlichtern, langsam ausgeführt, raffiniert und effektvoll hypnotisch. Perkussive Schläge animieren die Gruppe in nunmehr Kurzkleidchen zu Soli, bis eine schwarze Gaze leis herabfährt. Vor der Gaze zieht, wieder zeitzerdehnt, ein Paar seine Bahn, hantiert mit Textschildern. Tierhaft strebt ihre Bewegung auf Linie zu einer Lichtquelle hin, scheint über sich selbst zu staunen. Als die Gaze sich hebt, tragen die Tänzer ihre Glanztutus; über ihnen hängen die im Foyer geschossenen Fotos, gerahmt von einem Scheinwerferkarree.

Reihen entstehen, zerfallen in Trios, die zur Formation rückkehren, blitzschnell ihre Tutus »entladen«: Luftballons steigen, Lebensillusionen gleich, gen Schnürboden. Mit Handgestik beantworten die Tänzer Klatschrhythmen aus dem Orchester, begleitet von Streichern und Percussion. Ein Mann, begafft von den anderen, wirft zu minimalistischem Klang seine Partnerin einfach ab. Im knappen inkarnatfarbenen Dress ereignet sich Skurriles, nach dessen Sinn man aufgehört hat zu fragen. Umso mehr genießt man den ganzkörperlich geschmeidigen Bewegungsfluss, scheinbar aus dem Moment geboren, indes sorgsam einstudiert.

Marionetten sind die Tänzer längst nicht mehr, sondern mündig im Spaß an dem Stilmix aus Neoklassik, Akrobatik, Spiel und der Würze zeitgenössischer Techniken. Feurig ergießt er sich in den von Yaron Abulafias Licht grandios geformten Raum: Licht füllt, baut, begrenzt das Umfeld für den Tanz, hüllt ihn ein, lässt Tänzer von allen Seiten wie aus dem Nichts erscheinen, »radiert« sie fort. In Natasja Lansens körperengen Kostümen kann sich Itzik Galilis Bewegungssprache optimal entfalten: mit den zerspringenden, sich verändernden, aufgesogenen, fortgewischten, neu gefügten Formationen. Einmal in Gang gesetzt, entwickelt der Tanz eine Eigendynamik von narkotischer Wirkung, überrascht mit stets anderen Mustern, Auflösungen, Übergängen, ist offen für die Eingebung des Augenblicks, eben sinnbildhaft ein offener Raum.

Immer bizarrer gerät gegen Ende des 75-minütigen Parcours, was man als Geschlechterkampf und Rangkabbelei deuten kann. Streit unter den Männern mit archaischem Gestus à la »Troy Game« fällt amüsant aus, gewinnt ganz eigenen Witz, mündet zum Finale in ein überschäumend vibrierendes Tableau, wenn Tanz immer wieder erlischt und neu aufflammt.

Als die beteiligten 19 Tänzer, zehn davon Frauen, nach lauter werdender Musik plötzlich stoppen und in den Saal blicken, hält man dort den Atem an. Atemverschlagend souverän hat die gleichrangige Mannschaft aus Gruppentänzern und Ersten Solisten, so Nadja Saidakova, Elisa Carrillo Cabrera, Mikhail Kaniskin, Galilis Handschrift zu der Ihren gemacht, lässt sich von den mitreißenden Kompositionen der niederländischen Gruppe Percossa, ihrer vitalen Wiedergabe durch das Orchester der Komischen Oper unter Alexander Vitlin tragen. Dem Staatsballett dürfte so ein weiterer Coup in seinem zeitgenössischen Repertoire zugewachsen sein.

Nächste Vorstellung am 25.6., Infos: www.staatsbalett-berlin.de

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal