Mystiker, Propheten und Landvermesser

Gerhard Roth und die Bilderwelten der Gugginger Künstler

  • Adelbert und Ruth Renée Reif
  • Lesedauer: 7 Min.

»MÖBELNDIEB WIRRD, AUFGEHÄNGT IM, AFFRIKA.!«, steht da in blau-weißer Blockschrift. Einzelne Buchstaben sind rot hervorgehoben. Ein Pfeil, dem ein nach links gewinkeltes Hakenkreuz beigegeben ist, weist auf den Text. Darunter ist eine gehörnte Maske mit gebleckten Zähnen zu sehen, umrahmt von Orangen sowie Hammer und Sichel. Links steht groß und mächtig ein Mann. Das Wort »URWALD.«, umlaubt von olivfarbenen Blättern, ist über seinem schwarzen Haar zu lesen. Sein massiger Körper mit dem überdimensionalen Geschlecht ist gezeichnet von den Worten: »MÖRDER.«, »DIEB.«, »CHINESE.«, »RÄUBER.« Klein zu seinen Füßen drängt sich ein Häuschen mit vergitterten Fenstern und der Aufschrift »KERKER.«. Daneben stehen über einem Kreuz die Buchstaben »KPÖ.«. Und über der ganzen Szene, deren bunte Farben in entschiedenem Gegensatz zu ihrem bedrohlichen Inhalt stehen, prangt der schwarze lateinische Schriftzug: »Walla, Augustin.!«

August Walla lebte bis zu seinem Tod 2001 im »Haus der Künstler« in Maria Gugging bei Klosterneuburg, etwa zwanzig Kilometer nordwestlich von Wien. Er war einer der bekanntesten Gugginger Künstler. Gerhard Roth widmet sich in seinem soeben erschienenen Buch »Im Irrgarten der Bilder. Die Gugginger Künstler« ausgiebig »Wallas Universum«.

Im August 1976 fuhr Roth zum ersten Mal nach Gugging, um den Dichter Ernst Herbeck zu treffen. Ein »Haus der Künstler« gab es damals noch nicht. Gugging war eine »Anstalt« mit trostlosen Krankenhaussälen. Leo Navratil, der seit 1946 als Psychiater im Niederösterreichischen Landeskrankenhaus für Psychiatrie und Neurologie in Gugging tätig war, begegnete dem Besuch mit Misstrauen. Roth traf Herbeck im Park der Anstalt an einem Ententeich. In Navratils Buch »Schizophrenie und Sprache« hatte er unter dem Pseudonym »Alexander« sein Gedicht »Der Morgen« gelesen. Die Begegnung verlief mühsam. Herbeck antwortete karg auf Roths Fragen und sprach kaum aus eigenem Antrieb.

Alles an ihm habe »eine schwermütige Empfindsamkeit« ausgedrückt. Aber er schrieb ihm Gedichte in sein Notizbuch, zu denen Roth ihm die Titel vorgab. Einmal habe er geschrieben: »Alexander ist ein Prophet des Mittelalters, der es ermöglicht, Gottes Vers zu ebnen. - Landen in der See des Südens Italia.« Roth war deprimiert nach dem ersten Besuch: »… ich fühlte mich beschämt, hier eingedrungen zu sein und eine Besichtigung zu machen. Zum ersten Mal dachte ich, dass das Wort Eindruck stimmt. Was ich sah, hat etwas in mir eingedrückt.«

In dem Jahr, in dem Roth nach Gugging fuhr, erschienen Heinar Kipphardts Roman »März«, Ernst Augustins »Raumlicht: Der Fall Evelyne B.« und die deutsche Übersetzung von Ken Keseys »One Flew Over The Cuckoo's Nest«. Das Jahr markiert einen Höhepunkt im Diskurs über die Infragestellung der Psychiatrie und in der Auseinandersetzung mit dem Begriff Geisteskrankheit. Und als Navratil 1981 auf dem Areal des Krankenhauses das »Zentrum für Kunst-Psychotherapie« gründete, wurde dieses zu einem Mekka der Künstler, Schriftsteller und in der Folge sogar Musiker. Alle kamen, Peter Pongratz und Arnulf Rainer, Alfred Hrdlicka und Ernst Fuchs, Peter Handke, Ernst Jandl, Friederike Mayröcker und André Heller, der sich von der Sprache der Gugginger Künstler zu seinem ersten Theaterstück inspirieren ließ.

Manche kamen nur einmal. Andere kamen immer wieder. Roth, dessen literarisches Schaffen stark von den Erfahrungen in Gugging beeinflusst wurde, gehörte zu denen, die immer wiederkehrten. Über drei Jahrzehnte fuhr er regelmäßig die bewaldete Anhöhe hinauf dem weißen Schild mit dem blauen Stern entgegen. Er führte Gespräche mit den Künstlern, schaute ihnen bei der Arbeit zu, ließ sich ihr Werk erläutern und erwarb langsam ihr Vertrauen, sodass sie ihm nach Jahren gestatteten, sie zu fotografieren.

Der Künstler, der ihn von allen am meisten beeindruckte, war August Walla, »der Mystiker unter den Gugginger Künstlern«, den Roth mit dem Schweizer Adolf Wölfli vergleicht. Walla wurde 1936 in Klosterneuburg geboren. Seine Kindheit verbrachte er in einem Schrebergarten an der Donau. Während des Zweiten Weltkrieges wurde er in der berüchtigten Wiener Anstalt Am Spiegelgrund untersucht, zu seinem Glück aber nicht als Patient aufgenommen. Er entging damit dem Schicksal, dem auch tausende Gugginger Patienten zur Zeit des Nationalsozialismus zum Opfer fielen. Nach mehrfachen Aufenthalten in psychiatrischen Krankenhäusern wurde Walla 1983 gemeinsam mit seiner Mutter in Gugging aufgenommen. Im Unterschied zu den meisten Gugginger Künstlern bedurfte Walla keiner Aufforderung, um künstlerisch tätig zu sein. Fünf bis sechs Mal bemalte er allein Wände und Decke seines Zimmers mit der von ihm geschaffenen Mythologie. Es seien also, schreibt Roth, »Wallas sich einem fort wandelnde Erinnerungs-, Phantasie-, Halluzinations-, und Tagtraum-Universen, die sein Zimmer schmücken«.

Zu Wort kommt in dem Band auch Johann Feilacher, der Nachfolger von Leo Navratil. 1983 trat er in die Gugginger Anstalt ein. Drei Jahre lang war er Navratils Mitarbeiter und seit 1986 ist er der alleinige Leiter des »Zentrums für Kunst-Psychotherapie«, das er in »Haus der Künstler« umbenannte. Er schuf eine Galerie und ein Museum der Gugginger Künstler. Und seit 2010 ermöglicht ein Zubau zum »Haus der Künstler« auch die Aufnahme von Frauen.

Feilacher ist überzeugt, dass es sich bei den Gugginger Kunstwerken, die sich inzwischen in zahlreichen öffentlichen Sammlungen wie der Albertina und dem Museum Moderner Kunst in Wien, dem Salzburger Rupertinum, dem Münchner Lenbachhaus, der Sammlung ABCD in Paris, dem Philadelphia Museum of Art und dem Setagaya Art Museum in Tokio befinden, nicht um irgendeine »psychopathologische« oder »Patientenkunst« handelt, sondern einfach um Kunst. Nicht als »Künstlerpatienten« sollen die Bewohner des »Hauses der Künstler« angesehen werden, sondern einfach als Künstler - ohne Vorbehalte und psychopathologische Assoziationen.

Navratil, für den immer der therapeutische Aspekt im Vordergrund stand, verwendete dagegen gerne den Begriff »zustandsgebundene Kunst«. »Art brut ist im großen und ganzen doch eine Kunst psychisch schwer gestörter Menschen«, schrieb er in seinem Buch »Art brut und Psychiatrie«. Den Art-brut-Künstler sah er dadurch gekennzeichnet, dass er unbeeinflusst ist von kultureller Kunst, seine Werke auf keine Vorgänger verweisen und in keiner Tradition stehen.

Roth folgt Navratil in dieser Argumentation. Auch er betont die Unabhängigkeit des persönlichen Stils bei den Gugginger Künstlern, die absolute Authentizität und sieht ihre Besonderheit darin, dass sie nicht anders können. Es gibt bei ihnen kein »Kunstwollen« im Sinne des Kunsthistorikers Alois Riegl, sondern nur ein Müssen. Für den »gesunden« Künstler, so Roth, spiele in seinen Werken das Unbewusste eine ähnlich große Rolle wie bei den sogenannten geisteskranken, nur dass der »gesunde« bei seiner Arbeit immer wieder aufs Neue zum Kontinent des Unbewussten aufbreche, während der Art-brut-Künstler dort lebe.

Betrachtet man die Fotos, die Roth von den Künstlern im Laufe seiner über drei Jahrzehnte umspannenden Besuche gemacht hat, dann ist das auffallendste Merkmal das Leiden. Auf all den Fotos gibt es kaum ein fröhliches oder zufriedenes Gesicht. Gewiss, die Menschen leiden an ihrer Krankheit - zumeist Schizophrenie, wie Roth vermerkt. Aber es ist auch ein Leiden am Dasein. »Immer ist in den Werken ›geisteskranker Künstler‹ das Existenzielle spürbar«, betont Roth, »selbst dort, wo es um die scheinbar verschlüsselten oder unsinnigsten Bild- oder Wortfindungen geht.«

Und so liegt denn auch das aufwühlendste Gewicht des großformatigen, mit mehr als dreihundert Farbfotografien ausgestatteten Bandes in den abgebildeten und abgedruckten Kunstwerken. Roth zitiert die Gedichte Ernst Herbecks und Edmund Machs und er zeigt die Frauendarstellungen von Johann Hauser, die Kopffüßler von Oswald Tschirtner, die Bemalungen von Johann Garber, die kopulierenden Paare von Johann Korec, die abstrakten Darstellungen von Philipp Schöpke, die Tiere des gehör- und sprachlosen Künstlers Franz Kamlander und die Bilder von Erich Zittra, dessen mit einer Flut von Strichen bedeckte Zeichnungen von Häusern und Tieren die experimentelle Rock-Band Einstürzende Neubauten zu ihrem Album »Die Zeichnungen des Patienten O.T.« anregten. Und er hat sich auch den neuen Künstlern zugewandt, die unter Feilacher nach Gugging kamen, wie Günther Schützenhöfer, dessen schraffierte Objekte beim Zeichnen immer wieder in andere Objekte umkippen, oder Laila Bachtiar, die auf einem Campingbett im Atelier des Museums schläft, an deren Wand ihre Tierzeichnungen hängen, oder Leonhard Fink mit seinen Straßen- und Landkartenbildern, die Roth als Reiseerzählungen begreift, in denen jedoch nichts geschieht. »Denn irgendetwas hat bewirkt, dass kein Leben in den Landstrichen sichtbar ist. Sie sind ausgestorben, ohne Menschen und Tiere, und Leonhard, der märchenhafte Geograph und Landvermesser, scheint gerade als Vogel Fink über sie geflogen zu sein.«

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