Neue Unmittelbarkeit

Der Nationalsozialismus im Film und darüber hinaus

  • Detlef Kannapin
  • Lesedauer: 6 Min.

Es gibt einige Grundsätze zum Umgang mit Faschismus und Nationalsozialismus, die schlechterdings einer peinlichen Befolgung bedürfen, möchte man das Ziel nicht aus den Augen verlieren, mit Hilfe der historischen Erinnerung eine Wiederholung dieser politischen Herrschaftsform an der Macht in allen denkbaren Ausprägungen zukünftig zu verhindern.

Erster Grundsatz: »Hitlers persönliche Struktur und seine Lebensgeschichte sind für das Verständnis des Nationalsozialismus von keinerlei Belang. Es ist allerdings interessant, dass die kleinbürgerliche Herkunft seiner Ideen sich mit den Massenstrukturen, die diese Ideen bereitwillig aufnahmen, in den Hauptzügen deckte« (der Sozialpsychologe Wilhelm Reich, 1933). Anders gesagt: Wenn Hitler nicht gewesen wäre, hätte es ein anderer gemacht. Objektivität bezwingt subjektive Dispositionen.

Zweiter Grundsatz: »Nationalsozialistische Filmpolitik darzustellen, ist heute nur unter einem Aspekt wichtig: unter dem Aspekt, was an den damals herrschenden Grundsätzen heute noch normal erscheint« (der Filmjournalist Herbert Linder, 1970). Erweitert gesagt: Das gilt natürlich nicht nur für die NS-Filmpolitik im engeren Sinne, sondern für jede Artikulation zu faschistischen Systemen und ihren Nachwirkungen.

Dritter Grundsatz: »Ebenso wie eine Ausdehnung des Faschismusbegriffs auf alles Mögliche verhindert seine Verkleinerung auf die spezifisch deutsche Spielart jedes Verständnis der Sache. Eine Verkleinerung gar des deutschen Faschismus auf den Antisemitismus, wie ›Holocaust‹ (die US-Fernsehserie - D.K.) sie vorgenommen hat, ist überhaupt die Einstellung der Arbeit an ihm und gegen ihn« (der Dramatiker Peter Hacks, 1979). Denn: Die Arbeit am Faschismus und gegen ihn beginnt erst mit der analytischen Durchdringung der objektiven Gesellschaftsstrukturen, die aus dem Antisemitismus als Essenz und Wesensmitte des Radikalfaschismus eine brauchbare Staatsideologie machen.

Vierter Grundsatz: »Da die Grenzen von Traditionslinien freilich nicht eindeutig definierbar, sondern meistens ideologisch umkämpft sind, verbleibt eine erhebliche Variationsbreite möglicher Entwicklungen. Für die Gegenwart fließt aber in die kulturelle Formbestimmung die Tatsache ein, dass ihre Traditionslinien durch den Nationalsozialismus hindurchgegangen sind, wodurch die Variabilität der Möglichkeiten erheblich eingeschränkt worden ist« (die Sozialwissenschaftler Franz Dröge und Michael Müller, 1995). Das heißt im Klartext: Alle inhaltlichen und ästhetischen Äußerungen seit 1945 müssen sich daran messen lassen, wie sich ihr Verhältnis zur NS-Vergangenheit darstellt. Werbung in Anlehnung an Riefenstahl ist barbarisch. Vergleiche auch den zweiten Grundsatz.

Fünfter Grundsatz: »Die Art von Wissenschaft, deren sich die Gegenrevolution befleißigt, ist die Wissenschaft, falsche Fragen zu stellen, und dann auch die, keine richtigen Fragen zuzulassen« (noch einmal der Dramatiker Peter Hacks, 2001). Obwohl es sich hierbei um eine generalisierte Aussage handelt, ist sie dennoch angeführt worden, da Faschismus und Nationalsozialismus eindeutig im Lager der Gegenrevolution einzuordnen sind. Sofern die Bedingungen weiterexistieren, die zur faschistischen Herrschaft geführt haben und noch führen können, solange wird es immer Interessen geben, die im Sinne der Konservierung überlebter Sozialverhältnisse eine tiefschürfende Aufklärung lieber verhindern möchten - und zwar gerade, was die Rückbeziehung auf den Kapitalismus betrifft.

Es ist bezeichnend, dass alle fünf Grundsätze über siebzig Jahre verteilt sind und noch dazu aus völlig verschiedenen Kontexten stammen. Nicht minder bezeichnend ist, dass ihre Lehren fast gänzlich unbeachtet bleiben. Erst vor Kurzem musste Georg Seeßlen anlässlich der Planung des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, 2015 eine wissenschaftlich kommentierte Ausgabe von »Mein Kampf« herauszugeben, konstatieren, dass mit diesem Buch keinesfalls nur die Vergangenheit zu lesen ist, sondern besonders die Gegenwart.

Apropos Seeßlen. Seine programmatische Notiz von 1996 aus dem zweiten Band der Essays zum Faschismus in der populären Kultur, wonach sich das faschistische Bild als dominant gegenüber dem Bild vom Faschismus erweist, leitet eine umfassende neue Untersuchung zum Nationalsozialismus im Film von »Triumph des Willens« bis »Inglourious Basterds« ein, die dieser Tage erschienen ist. Die Autorin Sonja M. Schultz legt damit die erste deutsche Gesamtstudie zum Themenbereich der audiovisuellen Auseinandersetzung mit dem Faschismus von den Anfängen bis in die jüngste Gegenwart vor.

Die Verwendung des Seeßlen-Zitats in der Einleitung ihres Buches verweist auf den hohen Anspruch des Anliegens, nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ einen Standard zu setzen, wie in diesem Fall wirklich einmal die richtigen Fragen zu stellen sind. Immerhin wird neben der historischen Stimmigkeit oder Realitätsbezogenheit der Filme auch nach den ethischen Imperativen, moralischen Verantwortlichkeiten und ästhetischen Umsetzungskriterien gefragt, die den analytischen Zugriff notwendigerweise zu begleiten haben. Nicht alles vom faschistischen Endergebnis Mord und der daraus folgenden generativen sozialen Haltlosigkeit kann gezeigt werden und muss es auch nicht. Vielmehr kommt es in der filmischen Aufarbeitung der NS-Zeit darauf an, wie dem Publikum aus vernunftpolitischen Gründen nahegebracht werden kann, dass Faschismus und Nationalsozialismus von Anfang an eine dienende gesellschaftliche Funktion haben: Im Angesicht des allgemeinen Wunsches der Menschheit, endlich aus der Vorgeschichte auszutreten und der Mischung aus Plusmacherei, Egozentrik und Irrationalismus nachhaltig zu entgehen, werden die niedrigsten Instinkte des sozialen Daseins gefördert, um das Jahr 1917 auszulöschen. Faschismus ist die kleinbürgerliche Gegenbewegung zu Sozialismus und Kommunismus. Er tritt in ordnungspolitischen Ausnahmekonstellationen in Kraft, wenn die herkömmliche Kohäsion der Demokratie zu offensichtlich versagt. Überall dort, wo der soziale Kontext bei der Entstehung faschistischer Bildproduktion in Intention und Ausführung missachtet wird, gewinnt die Wirkmächtigkeit des faschistischen Selbstbildes über Gebühr an Bedeutung. Überall dort, wo der geistige Hintergrund und das formale Handwerk eine unumwundene antifaschistische Einheit bilden, ist das Bild vom Faschismus wesentlich kritisch und damit herrschaftskritisch.

Die Dominanz der Selbstsichtbeiträge gegenüber den kritischen rührt aus der Spekulation mit dem NS-Thema vom kommerziellen und ideologischen Standpunkt der Produzenten her. Wo diese Verhältnisse suspendiert waren, gab es einen weitaus substanzielleren Blick auf den Faschismus. Vergleiche zwischen Filmen wie »Der Fall Gleiwitz«, »Der gewöhnliche Faschismus« oder »Geh und sieh« zu Filmen wie »Nacht fiel über Gotenhafen«, »Hitler - eine Karriere« oder »Lili Marleen« hinken nur oberflächlich, denn eine Entscheidung über den besseren Gehalt fällt keineswegs schwer. In der Tat ist es eher so, dass eine zu starke Internalisierung des Schuldkomplexes dazu führt, Freisprüche zu provozieren, weil der Zusammenhang von Verstehen und Ausrede konstitutionell ist. Im Umkehrschluss gilt hingegen: Nur die bewusste Objektivierung der NS-Geschichte und der symbolische Austritt aus dem vergangenheitspolitischen Integrationsdruck zeitigt Filmwahrheiten von bleibendem Wert.

Schultz folgt in ihrer Argumentation den in der Forschung etablierten Paradigmen und Zäsuren. Sie zeigt aber innerhalb dieser Dispositionen eindrucksvoll den Wandel der Perspektiven und Techniken auf, mit denen die filmische Auseinandersetzung seit den 1940er Jahren geführt wurde. Die vom Historiker Saul Friedländer erstmals 1982 beschriebene Tendenz zur Neutralisierung der NS-Geschichte in der westlichen Kultur in Richtung Dämonisierung ist durch das Epochenjahr 1990 inzwischen fatales Gemeingut des europäischen Films und wird in der Gesamt-BRD durch den propagandistischen Opfer-Mythos verstärkt, der zudem so tut, als seien dessen ästhetisierte Elaborate auch noch »dabei gewesen«. Diese neue Unmittelbarkeit, die sich in Produkten wie »Der Untergang«, »Dresden« und »Die Flucht« sowie im Knopp-Universum der öffentlich-rechtlichen Desinformation Bahn bricht, rechnet mit der widerspruchsminimierten Restauration in immerwährender Gegenwart und Geschichtsvergessenheit. Betrieben wird darüber hinaus eine Verschüttung früherer filmischer Möglichkeiten, die sich durch die technologische Bedingung der Digitalisierung noch verschärfen wird.

Der mit Sicherheit größte Vorzug des Werkes ist die Konfrontation der Filmbeiträge vor und nach 1990. Hier wird so klar wie selten, was eigentlich systemrelevant passiert ist, wenn Nazimördern inzwischen Verständnis entgegengebracht wird und Revanchismus als legitime politische Meinung gelten darf. Man kann über die jeweiligen Interpretationen der Filme im Detail streiten, und nicht alle Vorsicht der Autorin gegenüber evident Falschem ist von ihrem ansonsten vorhandenen theoretischen Scharfsinn gedeckt. Allerdings schmälert dies nicht das Urteil, dass hier ein potenzielles Standardwerk zur Lektüre empfohlen wird.

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