7000 Kilometer immer ostwärts

Eine Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn vor 34 Jahren von Moskau bis an den Baikalsee

  • Heidi Diehl
  • Lesedauer: 4 Min.

Vom InterRail-Ticket hatte ich 1978 keine Ahnung. Und selbst wenn, es hätte mir ohnehin nichts genutzt. Nicht nur, weil ich in der DDR lebte. Da, wo ich hinwollte, galt es nicht - immer ostwärts. Meine Traumreise führte mich von Berlin rund 7000 Kilometer weit bis an den Baikalsee. Gemeinsam mit einigen Freunden wollten wir unsere Studentenzeit mit einem ganz besonderen »Abenteuer Schienenstrang« beenden - einer Fahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn, der längsten durchgehenden Eisenbahnverbindung der Welt, die Moskau mit Wladiwostok auf einer Länge von 9288 Kilometer verbindet.

Zugegeben, so ganz einfach war das Unterfangen nicht, denn mal schnell eine Fahrkarte nach Irkutsk kaufen war damals leider nicht möglich. Wir brauchten eine Einladung, doch dank einer Partneruniversität in Sibirien wurde das Problem gelöst. Was den Fahrpreis anging, so war der auch für Studenten erschwinglich, kostete doch der Bahnkilometer in der DDR nur acht Pfennige, im internationalen Verkehr noch weniger. Studenten hatten zudem noch Anspruch auf 50 Prozent Rabatt.

Russische Seele

Am 11. Juli 1978 begann die Tour in einen »Zubringerzug«. »Die Strecke vom Berlin nach Moskau brachten wir fast ausschließlich mit Gesang zu«, lese ich 34 Jahre später im Tagebuch. Gesungen haben wir in den nächsten sechs Wochen sehr viel, und nicht immer stießen wir dabei auf Gegenliebe bei unseren Mitreisenden. Wie in unserer zweiten Nacht in der Transsibirischen Eisenbahn bei Kilometer 1777, irgendwo nahe des Urals, wo wir alle zum ersten Mal im Leben einen Kontinent überschritten. »In unseren Abteilen ist immer irgendetwas im Gange. Jetzt zum Beispiel kam uns die Idee, mit einer Eurasientaufe den Übergang von Europa nach Asien zu begehen. Der Taufakt wurde 1.30 Uhr MEZ gleich 5.30 Uhr Ortszeit vorgenommen«. Was sich im Tagebuch so nüchtern liest, war in Wirklichkeit eine wüste Fete mit lautem Gesang, den Gerhard mit seiner Gitarre vergeblich zu überstimmen versuchte. Dass die »Schampanskoje«-Korken knallten, gehörte genau so zur Zeremonie wie ein selbstgebastelter »Eurasiapass« und ein auf die Schnelle getexteter Sibirien-Song mit solchen heroischen Versen wie: »Wir fahren alle ins Morgenland, wo schon so mancher das große Glück fand«.

Dazu gehörten wir, obwohl unsere Taufe für die sowjetischen Mitreisenden zunächst nichts weiter als eine unerhörte nächtliche Ruhestörung war. Doch als wir uns kleinlaut entschuldigten und ihnen dann von uns erzählten - schließlich waren wir alle mehr oder weniger geübt im Russischen - verziehen sie uns nicht nur schnell, sondern öffneten weit ihre sprichwörtliche russische Seele. Bis Nowosibirsk, dem ersten längeren Aufenthalt unserer Reise, überschütteten sie uns regelrecht mit ihrer Gastfreundschaft. Sie luden uns in ihre Abteile ein und teilten mit uns ihren Proviant. Wir diskutieren über Gott und die Welt, und natürlich wurde dabei auch so manche Flasche Wodka geleert.

Nicht nur für uns junge Deutsche waren diese Begegnungen etwas ganz Besonderes, sondern auch für so manchen, für den die Transsib schon lange nichts Exotisches mehr hatte. Denn selten nur verirrten sich Ausländer in den Zug, der damals noch keinerlei touristische Bedeutung hatte. Billigflieger gab es noch nicht, und so war er für Sowjetbürger die preiswerte Alternative zum Flug.

Schapka im Sommer

Nowosibirsk erreichten wir 3335 Kilometer oder knapp drei Tage nach der Abfahrt in Moskau. Hier verbrachten wir drei Wochen mit Jugendlichen aus anderen Ländern als Interbrigadisten, was hieß, wir bauten tagsüber Straßen in einem neuen Wohngebiet, in der Freizeit erkundeten wir Russlands drittgrößte Stadt, die 1883 mit dem Bau einer Brücke für die zwischen 1891 und 1916 erbaute Transsibirische Eisenbahn entstand.

Leicht war die Arbeit nicht, doch wer kann schon sagen, mal in Sibirien Straßen gebaut zu haben, und die Tätigkeit füllte auch noch die Reisekasse. So dass die Tour weitergehen konnte. Wieder in »unserem Zug« lagen bis Irkutsk noch rund 1850 Kilometer vor uns. Bei einem Stadtbummel traf ich dort bei sengender Augusthitze auf einen alten Mann, der Pelzmützen verkaufte, und eine auf dem Kopf trug. Ob ihm das nicht zu warm sei, fragte ich ihn. »Was gut gegen die Kälte, ist auch gut gegen die Wärme«, antwortete er. Ich kaufte ihm eine Schapka ab, die mir in »sibirischen« Wintern noch heute gute Dienste tut.

Von Irkutsk bis zum Baikalsee war's nur noch ein Katzensprung - und unsere vorerst letzte Bahnetappe. Nach Taschkent, Samarkand und Buchara, Usbekistans märchenhafte Städte, und zurück nach Moskau flogen wir. Wo wir für das letzte Stück der Heimreise noch einmal in einen Zug stiegen.

Sechs Wochen dauerte die längste und aufregendste Bahnreise meines Lebens, die Liebe zum Zugfahren ist geblieben.


Viele touristische Veranstalter bieten Reisen mit der Transsibirischen Eisenbahn an. Zu den erfahrensten gehört seit über 25 Jahren der Berliner Veranstalter Lernidee-Erlebnisreisen (www.lernidee.de).

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