Die so großartige und so verräterische Stunde Null

Nachdenken über Vorsätze

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: ca. 10.0 Min.
Nun ist wieder Jahresanfang. Wir sammelten uns die letzten Tage - nicht nur im Sinne jener größeren, festtäglichen »Familienzusammenführungen«, die zu Weihnachten und den Stunden danach angesagt sind. Nein, auch wir selber sammelten uns. Wir trugen in uns zusammen, was zur Besänftigung ansteht, zur Ausbesserung, zur Neufassung. Silvester ist immer die Stunde des Umschwungs, ein Datum, das gern aufscheint, als müsse da ein neues Tor aufgestoßen werden in unbekanntes Gelände. Dieser Unruhe, die uns schon im Herbst in die Nähe der wohlig strahlenden Heizung trieb und in uns zusätzlich den Verdacht nährte, Wärme sei überhaupt etwas, dem wir nicht immer die genügende Achtung schenken - dieser Unruhe entgehen nur die Kinder. Sie denken noch nicht an Zukunft, sie leben noch ohne das Gedächtnis des schwerwiegenden Verlustes. Unsereins aber sinnt plötzlich übers Bleigießen nach, bekommt Sinn für Orakel und Lust auf Januar. Im Januar bietet der Kalender die Illusion an, man habe mehr Zeit vor sich als im Dezember. Was uns bis gestern noch weggerast ist an Stunden, Tagen und Wochen, scheint jetzt stillzustehen, auf dass wir den Dingen ein neues Maß geben - und schon ist man verführt und mit Verbesserungsstrategien beschäftigt. Großartige Stunde Null. Es wird Spaß machen, ein neuer Mensch zu sein. Es wird ein Gefühl der Straffung durch uns gehen, wir werden unseren starken Willen empfinden, wenn wir unsere Vorsätze, unter den staunenden Augen unserer Mitmenschen, Punkt für Punkt in die Tat umsetzen. Willkommen also, du herrlicher Januar! Wenn nun noch Schnee hinzukäme - entschlossenes Herz, was willst du mehr! Das ist überhaupt das Schöne am Schnee, dem man generell, wo immer es sich anbietet, ein Lied singen muss: Er ist die alljährliche Kur für das notorisch überreizte Bewusstsein. Wer in den Schnee schaut, lässt allen Sinn fürs Aktuelle für wichtige Momente dahinfahren. Der Schnee ist gegen Hierarchien. Tag und Nacht, mehr Unterschied ist in Schneegegend nicht nötig. Das Leben büßt seine Problematik ein, jetzt denkt man: Denkmalschutz nicht nur für Häuser, sondern auch für Lebewesen! Keiner derer, die sich nun den entscheidenden Ruck geben werden, denkt daran, dass sich in Momenten jener Vorsätzlichkeit, die wir wie eine Neugeburt feiern, letztlich doch nur etwas wiederholt. Nun muss unwiderruflich ein anderer Begriff ins Feld geführt werden, und der ist wenig feierlich. Die Rede ist von nichts Teuflischerem als - der Hölle. Was das mit unseren Aufbrüchen zu tun hat? Ganz einfach und ganz bitter - die konkreteste Aussage, die es über die Hölle gibt, ist nämlich die: der Weg zu ihr sei just mit dem gepflastert, was wir doch eben als nahezu göttliche Eingebung definiert haben - mit guten Vorsätzen nämlich. In diesem Spruch, den der Volksmund offenbar aus reichlichem Reservoir an Erfahrung in die Welt gesetzt hat, höre ich immer deutlicher, dass man sich nicht übermäßig von Zielen leiten lassen soll. Alles, was uns als Ziel hingestellt und vorgebildet wird, alles, was uns als Auftrag mitgegeben wird, um unser gegenwärtiges Betragen zu beeinflussen, alles, was Versprechungscharakter hat, wird in diesem Satz in zweifelndes Bedenken getaucht. Das genau ist der unlösbare Widerspruch, der jedes Jahr auszutragen ist: Man will mit neuen Vorsätzen in den nächsten Lebensabschnitt hineingehen, aber man weiß doch ziemlich genau: Die neuen Pläne, die neuen Gesundheitsappelle, die neuen Gewissensreden, die neuen Freundlichkeitsimpulse tragen schon in der ersten Sekunde ihrer Veräußerung den teuflischen Keim des Verrats in sich. Das ist der Konflikt des 1. Januar, und dann folgen zwölf lange Monate, in denen uns die Zeit Zeit lässt, besagten Konflikt zu vergessen - und irgendwann erneut darauf zu hoffen, dass nun bald alles anders, nämlich besser würde. Woher aber rührt das berechtigte Misstrauen, das einem so schnöde realistisch ins schöne Januar-Traumbild vom Monat der seelischen Neuformatierung hineinpfuscht? Woher kommt die Gleichsetzung von Verbesserungs- und Änderungsträumen mit Hölle? Wahrscheinlich ist der Himmel daran schuld; was wir im Kleinen auszutragen haben, rührt von der Erfahrung des Menschen mit den großen Dingen dieser Welt. Es ist zu fürchten, schreibt Martin Walser, dass die Großen dieser Welt, die uns mit Himmel oder anderem Edlen, Höhergestellten bessern wollten, sich bei ihren Beschäftigungen unwillkürlich zu etwas hinreißen ließen, was eben ganz und gar nicht gelingen kann: Diese starken, erzieherischen Geister ha...

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