nd-aktuell.de / 07.11.2012 / Politik / Seite 5

»Das ist kein Hungerstreik«

Seit dem 1. November verweigert Hartz-IV-Bezieher Ralph Boes die Nahrungsaufnahme

Vor einem Jahr veröffentlichte der Aktivist Ralph Boes einen offenen Brandbrief gegen das Hartz-IV-System. Das hatte Folgen. Im Oktober 2012 kürzte ihm das Jobcenter den Regelsatz um 90 Prozent. Damit bleiben Boes ganze 37,40 Euro pro Monat. Am 1. November begann er ein öffentliches »Sanktionshungern«. nd-Redakteur Fabian Lambeck sprach mit ihm über die Gründe.

nd: Sie haben seit sechs Tagen nichts gegessen. Wie geht es Ihnen?
Boes: Heute fühle ich mich ein bisschen schwach, aber es geht mir gut.

Sie essen nicht, weil das Jobcenter Sie mit Sanktionen belegt hat. Ist das nicht ein bisschen übertrieben, da gleich in einen Hungerstreik zu treten?
Das ist kein Hungerstreik. Mit so einem Streik versucht man, jemand zu etwas zu zwingen. In meinem Fall ist es aber umgekehrt: Das Jobcenter gibt mir kein Geld, deshalb kann ich mir kein Essen kaufen. Auf diese Weise will man mich zu Tätigkeiten zwingen, die meiner Qualifikation in keiner Weise entsprechen.

Eigentlich müssten Sie nicht hungern. Schließlich gibt es in solchen Fällen ja Lebensmittelgutscheine ...
Ja, die sind mir angeboten worden, aber ich halte nichts von diesen Gutscheinen. Sie sind eine Kann-Leistung vom Amt und keine Muss-Leistung. Das heißt, ich müsste darum betteln. Zudem ist es eine soziale Stigmatisierung, damit einkaufen zu gehen. Auch werden die Gutscheine nicht in jedem Supermarkt akzeptiert.

Sie hungern also ganz bewusst?
Ja. Ich will so zeigen, unter welchem Druck Hartz-IV-Betroffene stehen. Jeder muss eine sogenannte Eingliederungsvereinbarung unterschreiben und da steht drin, dass man kein Geld mehr bekommt, wenn man nicht spurt. Ganz schnell wird einem der Monatssatz um 30, 60 und schließlich 100 Prozent gekürzt. Irgendwann zahlen die auch keine Beiträge für die Krankenversicherung mehr. Und wenn es ganz schlecht läuft, ist man irgendwann obdachlos. Natürlich kann man sich an Sozialgerichte wenden. Aber erstens brauchen die oft sehr lange, und zweitens geht es mir ja darum, sichtbar zu machen, welche Art von Drohung in diesem System liegt.

Nun werden Sanktionen nicht einfach so ausgesprochen. Sie sind vielmehr Strafe für Fehlverhalten. Haben Sie bewusst gegen die Auflagen verstoßen?
Ja. Und zwar, weil diese Auflagen menschenrechtswidrig sind. Mit der erzwungenen Eingliederungsvereinbarung akzeptiert man, dass man sich dem Sanktionsregime unterwirft. Wenn man sich danach irgendwas zuschulden kommen lässt, also etwa eine schlecht bezahlte oder entwürdigende Arbeit nicht annimmt, dann wird man bestraft.

Sie hungern seit sechs Tagen. Langsam müsste man sich beim Amt ja Sorgen um Sie machen. Könnte das Jobcenter Sie dazu bewegen, wieder Nahrung zu sich zu nehmen?
Ich denke nicht, dass das Jobcenter da was machen kann. Schließlich unterliegen die Sachbearbeiter der Hartz-IV-Gesetzgebung. Mit allem was ich mache, liege ich außerhalb dieser Gesetze. Es ist ein großes Wunder, dass sie mich zweieinhalb Jahre finanziert haben, obwohl ich öffentlich gegen die Gesetzgebung verstoßen habe. Ich habe sogar ganz offen gefragt, aufgrund welcher Gesetze sie mir überhaupt noch Geld geben.

Was wollen Sie mit der Aktion erreichen? Selbst wenn die Öffentlichkeit von Ihrem Fall erfährt, wird der Gesetzgeber wohl kaum die Sanktionen abschaffen.
Ich will, dass sich das Bundesverfassungsgericht damit beschäftigt.

Aber Karlsruhe hat doch bereits 2010 ein wegweisendes Hartz-IV-Urteil gefällt ...
Deshalb argumentiere ich vom Grundrecht her und nicht aus der Hartz-IV-Gesetzgebung. Da hätte ich keine Chance. Bisher wurde in Karlsruhe immer nur die Höhe des Regelsatzes verhandelt, aber das Sanktionsregime war kein Thema. Ich habe die Sanktionen auf mich gezogen, damit das Jobcenter keine Möglichkeit hat, die Sache abzublasen. Wenn man mit Karlsruhe droht, dann geben sie einem das Geld und damit fällt der Klagegrund weg. Mein Fall ist aber so gestrickt, dass sie mich von Seiten des Jobcenters kaum entlasten können. So könnte meine Klage unter Umständen wirklich nach Karlsruhe kommen.