Kooperation und Kampf

Die Europäische Union - Zur Janusköpfigkeit einer kapitaldominierten Integration

  • Gregor Schirmer
  • Lesedauer: 4 Min.

Er kennt die Europäische Union nicht nur durch profunde Studien, sondern aus eigener Praxis, ist er doch seit 1999 wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke des EU-Parlaments. Nun legte Andreas Wehr in der Reihe »Basiswissen« des PapyRossa Verlags einen kritischen Abriss über die EU vor. Jeder Autor in dieser Reihe unterliegt dem - wohltuenden - Zwang, knapp und prägnant einen doch umfassenden Überblick zu bieten. Dies ist Wehr gelungen. In der Kürze liegt die Würze.

Der studierte Jurist, Jg. 1954, bewältigt das große Thema historisch. Im ersten Kapitel hält er einen Exkurs über romantizistische Europa-Schwärmerei und die schillernde Paneuropa-Bewegung. Er sieht wider den Mythos einer »europäischen« Geschichte die »wirklich einigende Tat Europas« in der Tatsache, »dass sich auf diesem Kontinent - unter Ausbeutung der restlichen Welt - die kapitalistische Produktionsweise herausgebildet hat, die die Existenz der gesamten Menschheit bis heute prägt.« Sodann durchforstet Wehr die Geschichte der EU von ihren holprigen Anfängen in den frühen 50er Jahren bis heute.

Nicht friedensstiftende Absichten und Altruismus waren die Beweggründe für den Beginn der europäischen Integration und die Gründung des ersten Vorgängers der EU, der Montanunion 1952, sondern Druck der USA sowie eigensüchtige Interessen Frankreichs und Deutschlands. 1954 scheiterte die Europäische Verteidigungsgemeinschaft am Widerstand der französischen Nationalversammlung, »ein Menetekel für den weiteren Weg der Integration, sollte doch eine enge Zusammenarbeit in der Außen- und Sicherheitspolitik oder gar die Schaffung einer europäischen Armee bis heute nicht erreicht werden«, bemerkt Wehr. »Die angestrebte politische Union muss aber ohne einen Zusammenschluss im Kernbereich der Außen- und Sicherheitspolitik eine Fiktion bleiben.«

Die bis heute noch nicht vollendete Einführung des Binnenmarkts mit seinem schrankenlosen Wettbewerb ab 1985 war ein weiterer Einschnitt in der Geschichte der EU. Die »ihm zugrunde liegenden vier Grundfreiheiten - freier Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital - stellen die Verfassung der Union dar. Es ist die Verfassung einer weitgehend unbeschränkten kapitalistischen Wirtschaftsordnung«, erklärt Wehr. Trotz Rückschlägen war die weitere Geschichte der EU erfolgreich im Sinne der in Europa herrschenden Kräfte. Sie mündete nicht zufällig in eine Periode der Rückschläge und Krisen seit 2005 (gescheiterter Verfassungsvertrag, Lissabonner Vertrag, Euro-Krise), vom Autor akribisch analysiert.

Wehrs Resümee hat es in sich. Der erreichte Integrationsgrad sei ein »neues Phänomen« und »Ausdruck der objektiven Vergesellschaftung im Sinne einer immer arbeitsteiligeren und immer größere Räume umfassenden Produktion und Konsumtion«. Aber dieser europäischen Vergesellschaftung seien Grenzen gesetzt, weil »die EU als regionale Form dieser Internationalisierung von imperialistischen Staaten getragen wird«. Mit der EU entsteht kein neuer Staat. »Es gibt auch keinen ›Eurokapitalismus‹ oder ›eine Tendenz zum Euroimperialismus‹, wie gelegentlich angenommen wird, denn es fehlt an der entscheidenden Grundlage für eine solch neue Qualität, an einer übergreifenden transnationalen kapitalistischen Klasse.« Die Europäische Union hat nach Wehr ein doppeltes Gesicht. Sie ist »eine entwickelte Form der Kooperation zwischen Staaten. Sie ist aber zugleich Austragungsort der Kampfes zwischen ihnen.« Und das ist ein Kampf der imperialistischen Kernstaaten gegeneinander um die Hegemonie in Europa, der bisher grundsätzlich zugunsten Deutschlands ausgegangen ist. In diesem Kampf kämen die Staaten der EU-Peripherie unter die Räder. Damit einher gehe das grundlegende demokratische Defizit der EU und der »vertraglich festgeschriebene Sozialabbau«. Wehr scheut sich nicht, sich auch auf den selbst im linken Diskurs weitgehend totgeschwiegenen Lenin zu beziehen.

Der Autor beharrt auf seinem Standpunkt, dass angesichts der realen Situation der auf Veränderung drängenden Kräfte in der EU auf absehbare Zeit die Kämpfe auf nationalstaatlicher Ebene entscheidend sein werden. Auf dieser Ebene werden auch jene für Veränderungen hin zum Sozialismus ausgetragen, »wo sie aber nicht stehen bleiben dürfen«. Wehr beruft sich auf das Kommunistische Manifest, wo es heißt: »Obgleich nicht dem Inhalt, ist der Form nach der Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie zunächst ein nationaler. Das Proletariat eines jeden Landes muss natürlich zuerst mit seiner eigenen Bourgeoisie fertig werden.« Das ist kein Rückzug in nationalstaatliche Eigenbrötlerei, sondern Konsequenz aus der realen Situation demokratischer und linker Kräfte auf dem europäischen Kampfplatz. Die Kämpfe auf nationalstaatlicher Ebene müssen verbunden sein mit Solidarität auf europäischer Ebene und dem allgemeinen Kampf um Demokratie.

Andreas Wehr: Die Europäische Union. PapyRossa Verlag, Köln 2012. 134 S. br., 9,90 €.

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