Nach dem ENDE ist vor dem ENDE

Georg Seidels »Carmen Kittel« in der Box im Deutschen Theater Berlin

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 5 Min.

Diese Küche türmt sich in die Höhe wie das Grabmal der Vollkomfort-Träume einer Mangelgesellschaft, weiß wie der Tod, bleich wie Marmor. Hier, im Mobiliar ihrer ersten eigenen Wohnung, turnt Carmen Kittel herum, das Heimkind, das in der Schälküche den Kartoffeln »die Augen aussticht«, bis ihr selbst vor Müdigkeit die Augen zufallen. Die Träume wachsen nicht in den Himmel, aber der Schutt!

Der Fernseher ist bereits kaputt, ist nicht das einzige, was hier in Trümmer geht. Die Augen fallen Carmen Kittel schon zu, bevor sie überhaupt zu arbeiten angefangen hat. Wenn dieses Mädchen etwas nicht hat, dann ist das Energie und Lust zu leben, von besonderen Fähigkeiten gar nicht zu reden.

Georg Seidel hat mit »Carmen Kittel« ein Stück über die untergehende DDR geschrieben, dessen explosive Apathie immer noch schockiert. Eine Generation liegt k.o. am Boden, bevor sie gestanden, geschweige denn gekämpft hat. »Carmen Kittel« wurde auch aufgeführt, in Schwerin etwa, wo Christoph Schroth dem Eigensinn ein verlässliches Exil bot, 1987 in der Regie von Christine Harbort, dann in Rudolstadt, Neustrelitz und schließlich 1989 am Berliner Ensemble. Einen ähnlichen Weg nahm »Jochen Schanotta«, dieser Exzess aus Hoffnungslosigkeit und Ekel, Gegenstück zum romantischen Verweigerer Edgar Wibeau in Plenzdorfs »Die neuen Leiden des jungen W.«.

Die Träume, auch die vom dritten Weg, Kommune und Anarchie, sie waren in den achtziger Jahren ausgeträumt - zumindest bei denen, für die diese DDR-Gesellschaft prädestiniert gewesen sein sollte: den jungen Arbeitern. Nur in Studentenzirkeln oder gar in der Jungen Gemeinde träumte man noch von einem anderen, menschlichen Sozialismus. Wie muss es die Generation der alten Kommunisten getroffen haben, dass ausgerechnet die Arbeiter die DDR ohne zu zögern weggaben, nein, wegstießen?! Aber das war auch ihr Werk, diese systematische Abstumpfung der Jugend, die schließlich überhaupt nichts mehr hören wollte, was »von oben« verordnet wurde. Das Schlüsselwort bei Seidel lautet darum »Rost«.

Georg Seidel (geboren 1945) war einer der wenigen, der mit seinen Stücken - neben »Jochen Schanotta« und »Carmen Kittel« auch noch »Villa Jugend« - die Endzeit der DDR mit brutaler Direktheit porträtierte. Nachkriegskindheit im zerstörten Dessau, Bausoldat, Bühnenarbeiter, schließlich Beleuchter am DT. Dabei immer schreibend, ein unheilbarer Außenseiter. Am DT entdeckte ihn Ilse Galfert und machte ihn zum Mitarbeiter der hauseigenen Dramaturgie. Auch das war möglich in der DDR, es gab immer welche, die nach anderen suchten, etwas von ihnen erwarteten, ihnen Möglichkeiten eröffneten, meist im Halbverborgenen, aber immerhin. So konnte Seidel weiter schreiben, auch wenn das DT vor der Wende nie eines seiner Stücke herausbrachte.

Jetzt allerdings erinnert sich das Deutsche Theater an Seidel. Es brachte zuerst »Jochen Schanotta« in der Regie von Frank Abt heraus, eine überaus wichtige Inszenierung mit Andreas Döhler und Kathleen Morgeneyer in den Hauptrollen. Und nun in der Box »Carmen Kittel«, Regie Cilli Drexel. Es spielen Schüler der Schauspielschule Ernst Busch. Olivia Gräser aus dem DT-Ensemble ist Carmen Kittel. Der Grundton aller Seidel-Stücke, wie er sich in »Villa Jugend« ausspricht: »Hier geht etwas zu Ende, was längst zu Ende ist. ... Alles kaputt, das Land, die Menschen.«

Lauter negative Energie, die sich mit unerhörter Aggressivität Bahn bricht, nur von Apathie unterbrochen. Seidels an Villon erinnernde Sprachkraft macht hier mitten in der DDR mit ihr ein Ende! Welch ein Bild: »Das Meer unterdrückt bald sein eigenes Rauschen.« Das ist immer noch schockierend - und man fragt sich, gibt es dafür heute irgendwo eine Entsprechung? Vielleicht in den Parallelgesellschaften der Immigranten im Berliner Wedding oder Neukölln? Es würde mich interessieren, wie man etwa am Ballhaus Naunynstraße mit diesen Texten umgeht.

Fest steht: Die Generation der Selbstperformer (zumindest an der Ernst-Busch-Schule) kann »Carmen Kittel« nicht spielen, diese Mischung aus Gewalt und Zärtlichkeit, Hitze und Kälte mitten im allgegenwärtigen Vor-sich-hin-Rosten der Verhältnisse. Es klingt plötzlich geradezu kokett - wie eine bloße Parodie auf die real herrschende Paranoia. Versteht man es tatsächlich nicht, worum es bei Seidel geht, oder versteht man es nur an der Ernst-Busch-Schule nicht? Dabei wird es doch offen ausgesprochen: »Hier kann jeder still vor sich hinsterben, ohne zu frieren.«

Die Regie von Cilli Drexel scheint einem tieferen Verständnis der jungen Schauspieler jedenfalls wenig hilfreich gewesen zu sein, der Text rinnt in aller Ausdruckslosigkeit vorbei, statt das Publikum anzugreifen. Halb Kabarett, halb Laientheater - so kommt man niemals bis zu Seidel! Einziger Lichtblick: Olivia Gräser. Sie kann Carmen Kittel spielen, hat die spröde Härte, den in ihre großen Augen tief eingesenkten Traum, dem die Worte fehlen. Sie wirkt so befremdlich wie mitleiderregend, so hart wie schutzlos. Die Proletarier geben ihr Land auf und niemand merkt es!

Man sollte Seidels Stücke wieder spielen, wenn es um Lüge und Wahrheit einer Gesellschaft geht. Seidel, der Außenseiter, vollzog den Staatsuntergang, als andere noch Jubiläen feierten. »Bauen wir erst das Paradies auf, oder bauen wir erst die Braunkohle ab. Man hat sich für die Braunkohle entschieden. Aber wenn die Braunkohle dann weg ist, dann setzen wir das Paradies rein in die leere Grube, oder wir spielen dort Tennis. Und wenn der Druck zunimmt auf dein Gehirn, trinke; saufen dient der Bewusstseinserweiterung.«

Der Abschied von der Lüge, aber keine neue Wahrheit in Sicht. Georg Seidel starb am 3. Juni 1990.

Nächste Vorstellung: 8.12.

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