Der Thermidor eines Generalissimo

Die »Ärzteverschwörung« von 1953 - Stalins letzte antisemitische Kampagne

  • Karl-Heinz Gräfe
  • Lesedauer: 4 Min.

Am 9. Januar 1953 entschied die Parteiführung der KPdSU, den wahrscheinlich schon seit Mitte 1952 vorbereiteten Schauprozess gegen hochrangige Kremlärzte jüdischer Herkunft mit einer Medienkampagne einzuleiten. Obwohl Josef Stalin an dieser Beratung nicht teilnahm, war er doch Auftraggeber der letzten großen Repressionswelle, die von Georgi Malenkow, seinem 1. Stellvertreter, Innenminister Lawrenti Berija, Sicherheitsminister Semjon Ignatjew und Propagandachef Nikolai Michailow durchgepeitscht wurde.

Die Nachrichtenagentur TASS, das Parteiorgan »Prawda« und die Regierungszeitung »Iswestija« behaupteten in ihren Leitartikeln am 13. Januar 1953, dass eine »terroristischen Gruppe« Mediziner vom CIA und der jüdisch-amerikanischen Organisation Joint den Auftrag erhalten habe, »führende Kader der UdSSR zu vernichten«. Diese »Monster in menschlicher Gestalt« hätten schon in den 30er und 40er Jahren Persönlichkeiten wie den Schriftsteller Maxim Gorki sowie die Partei- und Staatsfunktionäre Valerian Kuibyschew, Aleksander Tscherbakow und Andrej Shdanow umgebracht. Am 20. Januar 1953 erhielt die Ärztin Lidija Timaschuk den Leninorden für ihre »patriotische Wachsamkeit«. Sie hatte im August 1948 die Sicherheitsorgane auf eine »Fehlbehandlung« des Ideologiesekretärs Shdanow durch die Regierungsärzte Wladimir Winogradow und Jakow Etinger informiert. Stalin hatte den Bericht im Archiv ablegen lassen. Nun wurde er wieder hervorgeholt.

Die in allen Medien geführte antisemitische Verleumdungskampagne führte landesweit zu bisher ungewöhnlichen feindseligen Äußerungen und Handlungen breiter Kreise der Bevölkerung gegenüber ihren jüdischen Mitbürgern. Öffentliche Stellungsnahmen und Geheimdienstanalysen belegen, wie die schon im Zarenreich vorherrschenden Stereotype von den »jüdischen Weltverschwörern, Verrätern und Brunnenvergiftern« im Januar 1953 erneut auflebten - bei Arbeitern und Bauern, aber auch Intellektuellen und sogar in den Straflagern des GULAG.

Jüdische Ärzte wurden allerorts boykottiert, Hunderte Bürger jüdischer Herkunft inhaftiert oder fristlos entlassen, allein 200 Lehrkräfte an der Universität Odessa und 26 Mitarbeiter des Lehrerseminars in Uljanowsk, Lenins Geburtsstadt. Es gingen Gerüchte um, alle Juden würden nach Sibirien zwangsdeportiert. Doch dies ist nicht durch Dokumente belegt.

Die Regierung der USA, die auf den Höhepunkt des Kalten Krieges eine weltweite antisowjetische Kampagne inszenierte, scheute nicht davor zurück, den bereits zum Tode verurteilten Ehepaar Julius und Ethel Rosenberg Amnestie anzubieten, wenn sie öffentlich gegen die UdSSR Stellung beziehen und dem Kommunismus abschwören würden. Die beiden lehnten es ab; im Juli 1953 starben sie auf dem elektrischen Stuhl.

Die antisemitische und antiisraelische Hetze in der UdSSR wurde weiter angeheizt, als am 9. Februar 1953 eine zionistische Untergrundgruppe eine Bombe in die sowjetische Botschaft in Tel Aviv warf und drei Sowjetbürger verletzt wurden. Obwohl die Täter gefasst und bestraft wurden und Israel sich offiziell entschuldigte, brach Moskau zwei Tage später die diplomatischen Beziehungen ab und beschuldigte Tel Aviv des Komplotts mit den USA. Die sowjetischen Juden, die 1948 - wie auch die Sowjetregierung - die Gründung des jüdischen Staates begrüßt hatten, wurden nun, ähnlich wie in den 30er und 40er Jahren Deutsche oder Polen, verdächtigt,, keine loyalen, patriotischen Sowjetbürger zu sein, sondern »Agenten des Erzfeindes USA«.

Stalins antisemitische Mobilisierungsaktion ebbte ab dem 20. Februar ab; offenbar hatte der Generalissimo, wie der Diktator sich nennen ließ, selbst das unkalkulierbare Risiko erkannt. Einen Monat nach seinem Tod gab am 4. April 1953 das von Berija geleitete Innenministerium bekannt, die jüdischen Ärzte seien »ohne Rechtsgrundlage durch den früheren Minister für Staatssicherheit ungesetzlich verhaftet worden«. Zur Verantwortung gezogen wurde allerdings nur Chefermittler Michael Rjumin wegen der Anwendung von Folter bei den Verhören; der nunmehrige »Rechtsbrecher« und »Provokateur« wurde 1954 hingerichtet. Sicherheitsminister Ignatjew, Gefolgsmann des jetzt an die Macht drängenden Nikita Chruschtschow, blieb im ZK. Der »wachsamen Patriotin« Timaschuk wurde der Leninorden aberkannt. Die ihre Haft überlebenden Ärzte wurden freigelassen.

Im November 1953 kehrte Israels Gesandter auf seinen Posten nach Moskau zurück und der sowjetische Vertreter nahm seine Arbeit in Jerusalem auf; die Stadt mit den Heiligen Stätten dreier Weltreligionen war 1950 zur Hauptstadt Israels deklariert worden, was nun also erstmals von einer Großmacht anerkannt wurde.

Die antisemitische Hetzkampagne vor 60 Jahren in der UdSSR war kein Ausrutscher eines paranoiden Diktators, sie gehört zum Wesen des stalinistischen Herrschaftssystems (wie auch anderer totalitärer Regime): In Krisensituationen dienten Juden als Sündenböcke für eine verfehlte Politik. Im Unterschied zu Lenin hatte sich Stalin des Antisemitismus bereits im Kampf um die Macht im Kreml bedient - bei der Ausschaltung seiner vermeintlichen oder wirklichen Rivalen Lew Trotzki, Lew Kamenew und Grigori Sinowjew.

Auch die nach Moskauer Drehbuch Ende der 40er/Anfang der 50er Jahre initiierten Schauprozesse in Ungarn (Laszlo Rajk), Rumänien (Ana Pauke) und in der CSR (Rudolf Slanksy), die katastrophale Folgen auch in der DDR zeitigten, offenbaren die enge Verflechtung von Antisemitismus und Stalinismus, auf die Trotzki schon 1937 in seiner Schrift »Thermidor und Antisemitismus« aufmerksam machte.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal
Mehr aus: