Keine Basis für ein Bündnis

Ein Beitrag zur Debatte um links-grüne Zusammenarbeit in Berlin

  • Michail Nelken
  • Lesedauer: 5 Min.

Stefan Liebich will der gebeutelten Berliner SPD eine »Regierungspause« zur Regeneration verschaffen und diese durch ein Regierungsbündnis von Grünen und LINKEN füllen. Angesichts der Tatsache, dass die Berliner LINKE sich von ihrer zehnjährigen Regierungszeit noch nicht erholt hat und von deren kritischer Aufarbeitung noch meilenweit entfernt ist, mutet dieses Angebot selbstlos an. Es kann aber auch Ausdruck von anhaltender politischer Orientierungslosigkeit und Leere sein.

Wenn Lieblich Gründe auflistet, warum der Wowereit-Henkel-Senat sofort durch einen grün-roten ersetzt werden solle, fragt man sich verwundert, was die SPD von 2011, mit der Liebich noch eine gute Zukunft für Berlin gestalten wollte, von der SPD von 2013 unterscheidet? S-Bahn-Chaos, Flughafendesaster, Ignorieren von Volksbegehren, eine schlechte Wohnungspolitik usw. – das praktizierte die SPD auch alles schon seinerzeit mit der LINKEN.

Abgesehen davon haben Liebichs grün-rote Koalitionsvisionen vor allem mit der gesellschaftlichen Realität nichts zu tun. Selbst der schrumpfende Rückhalt von Klaus Wowereit und der von ihm geführten Koalition übertrifft immer noch die Zustimmung zu einer Koalition von Grünen und LINKEN um ein vielfaches. Die Berliner wollen nicht von Rot-Grün gerettet werden - wovor auch immer.

Unterschiedliche Interessenslagen

Das ist sicher zum einen dem derzeit geringen Ansehen der LINKEN geschuldet, was Liebich offenbar für ein leicht überwindbares Missverständnis hält. Unübersehbar sind aber vor allem die Divergenzen in den sozialen und kulturellen Milieus der Anhänger und potenziellen Wähler beider Parteien, die, wie Harald Werner im »neuen deutschland« zutreffend entgegnete, eher zunehmen als abnehmen. Das könnte Stefan Liebich empirisch erfahren, wenn er sich den sozialen Veränderungen und Widersprüchen in seinem Wahlkreis Pankow zuwenden würde.

Die sich hier vollziehende sozial-räumliche Segregation widerspiegelt sich auch in der räumlichen Verteilung der Partei-Präferenz der Wähler. Dabei bilden die divergierenden Interessen ihrer Mitglieder und Wähler den sozial-kulturellen Hintergrund für die zunehmenden politischen Konflikte zwischen Grünen und LINKEN in Pankow.

So verstehen und vertreten die Grünen in der Wohnungspolitik eher die Perspektive des »ökologie- und technikaffinen«, »familien- und karrierebewussten« neuen Mittelstandes. Das ist das soziale Milieu, das sie mit dem sozialen Erhaltungsrecht »schützen« wollen, dem sie Entfaltungsmöglichkeiten im Neubau (Baugruppen) und in der Bestandssanierung (Grundrissänderung/ Eigentumswohnungen) verschaffen wollen. Während die Linke hier eine weit restriktivere Beschränkungen gegen die Aufwertung und Vermarktung von Wohnhäusern und Grund- und Boden anstrebt.

Diese soziale Divergenz liegt auch den differenten Positionen von LINKEN und Grünen in Pankow bei den Auseinandersetzungen um die Kleingärten oder die Seniorenfreizeitstätte in der Stillen Straße, um die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen und den Verkauf von landeseigenen Immobilien und bei vielen anderen kommunalpolitischen Fragen zu Grunde.

Die Realität und der Mikrokosmos des Parlaments

Der Zusammenhang zwischen sozialer Lebens- und Interessenlage und politischer Positionierung ist natürlich kein linearer. Weltwahrnehmung und politisches Engagement von Individuen sind nicht deterministischer Ausfluss ihrer sozialen Lage. Für die Politik der LINKEN engagieren sich In Pankow auch zugezogene mittelständische Selbständige aus Schwaben, Baden oder dem Rheinland. Auch LINKE besitzen Eigentumswohnungen im Prenzlauer Berg. Auch unter den Wählern der Grünen gibt es Hartz-4-Empfänger und prekär beschäftigte Arbeitnehmer. Und es gibt Mandatsträger der Grünen, die in der Wohnungs- und Sozialpolitik ähnliche Positionen vertreten wie die LINKE.

Doch politische Programmatik und Strategien von Parteien werden langfristig von sozialen Interessenlagen geprägt. Dies zu ignorieren, zeugte von fehlendem politisch Ernst und mangelndem Respekt, weil die abweichende Position so nur als Irrtum als mangelnde Einsicht reflektiert werden könnte.

Stefan Liebich ignoriert die fundamentalen gesellschaftlichen Spaltungsprozesse und »feuilletoniert« über eine Grüne-LINKE-Regierungskoalition in Berlin. Es mag ja sein, dass Mandatsträger der Grünen und der LINKEN in der Opposition im Mikrokosmos eines Parlaments gut zusammenarbeiten können. Aber die Politik der Linkspartei sollte auf gesellschaftlichen Prozessen und Veränderungen basiert sein. Die soziale Divergenz ist derzeit zwischen Grünen und LINKEN bestimmend, nicht nur in Berlin. Darauf lässt sich unter den gegebenen Umständen kein gesellschaftspolitisches strategisches Bündnis gründen.

Bedeutet dies politische Ohnmacht und gesellschaftlicher Stillstand, wie Liebich suggeriert? Wie kommt Liebich darauf, dass die LINKE sich aus einer babylonische Gefangenschaft mit der SPD befreien müsse? Dem liegt ganz offensichtlich ein Politikverständnis zu Grunde, das gesellschaftliche Gestaltungsmacht an die Regierungsbank bindet und auf die Aufgabe fixiert ist, einen Koalitionspartner zu finden, der einem den Weg dorthin eröffnet.

Dabei könnte Liebich hier tatsächlich von den Grünen lernen. Sie haben als politische Partei, gestützt auf eine politisch kulturelle gesellschaftliche Bewegung die Bundesrepublik verändert. Als sie Bundesregierung eintraten, hatten sie ihre gesellschaftsverändernde Kraft bereits weitgehend eingebüßt. Stefan Liebich hat doch auch selbst erfahren müssen, dass der Eintritt in eine Landesregierung auch für die LINKE nicht unbedingt nur mit einem Gewinn, sondern auch mit einem Verlust an gesellschaftlicher Gestaltungskraft verbunden sein kann. Sein Gerede über ein Regierungsbündnis aus Grünen und Linkspartei in Berlin ist realitätsabstinent und unpolitisch, ist Politik-Gaming fürs Parlamentscasino.

Michail Nelken gehörte von 1995 bis 2006 für die PDS dem Abgeordnetenhaus von Berlin an, seither ist er Bezirksstadtrat der Linkspartei im Bezirk Pankow. Sein Beitrag setzt die Debatte über Stefan Liebichs Überlegungen zu einer links-grünen Bündnisoption fort. Bisher erschienen dazu Texte von Stefan Liebich (hier), Harald Werner (hier) und Tom Strohschneider (hier).

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