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Demokratie ist lustig

Die Genese eines Bettvorlegers

  • Karsten Peters
  • Lesedauer: 6 Min.

Vor etwas mehr als zwei Wochen traten zwei portugiesische Abgeordnete im Wirtschafts- und Währungsausschuss des Europäischen Parlaments an – offenbar mit dem Vorsatz, den Laden mal so richtig aufzumischen: Elisa Ferreira, Mitglied der S&D-Fraktion, also der Sozialdemokraten – und in der Tat waschechte Sozialdemokratin, die ganz offensichtlich starke Bauchschmerzen mit der gegenwärtigen Austeritätspolitik hat, und Marisa Matias, Mitglied der GUE/NGL-Fraktion und Vorstandsmitglied des portugiesischen Linksblocks (Bloco de escuerda).

Marisa Matias legte bei der Ausschusssitzung am 22. Januar ihren Kommentar zum Jahresbericht der Europäischen Zentralbank vor und obwohl sie in darin weitreichende Forderungen formuliert, wurde er im Ausschuss angenommen: 23 Stimmen für, 22 gegen den Bericht. Es mag ein Unfall gewesen sein, aber für den Moment spricht sich der Wirtschafts- und Währungsausschuss des Europäischen Parlaments unter anderem dafür aus, die demokratische Kontrolle über die Europäische Zentralbank (EZB) deutlich auszuweiten. Es könne nicht sein, heißt es in der Erklärung, dass die EZB in weiten Teilen der EU mittlerweile eher als Teil des Problems denn als Teil der Lösung angesehen wird und die Zentralbank mit ihrer Politik in der Troika massiven Einfluss auf das Leben von Menschen in der EU nimmt, ohne dass sie sich dafür vor dem Parlament verantworten muss. Außerdem fordert Matias – und mit ihr der Ausschuss – Bedingungen für Banken, die zusätzliche Liquidität der Zentralbank in Anspruch nehmen, aufzustellen.

Vor einem Jahr hat die EZB in zwei Programmen knapp eine Billion Euro zum Zinssatz von ein Prozent zur Verfügung gestellt. Erklärter Wille damals: den Markt mit Liquidität versorgen, um das Kreditangebot an Unternehmen wieder auf ein normales Niveau zu bringen und die gebeutelten Staatsanleihen zu entlasten. Die Zinsen für Staatsanleihen der Krisenländer sanken vorübergehend, die Kreditvergabe vor allem an kleine und mittelständische Unternehmen ist aber weiter zurückgegangen. Der Effekt für die Realwirtschaft hält sich also eher in Grenzen. Daher die Forderung, dass Banken, wenn sie Extrageld von der EZB abholen, mehr Kredite an Unternehmen und Privatpersonen ausgeben müssen, statt damit die eigene Bilanz zu schönen oder an den Finanzmärkten spielen zu gehen.

Beinahe im Vorübergehen übt der Bericht dann noch deutliche Kritik an den Strukturanpassungsprogrammen und ihren fatalen Folgen in zahlreichen EU-Ländern. Und er fordert Solidarität. Verantwortliche Politik sei ja gut und schön, aber die massiven Geldabflüsse aus den Krisenländern und die wirtschaftlichen Ungleichgewichte in der EU können nur reduziert werden, wenn alle solidarisch miteinander handeln. Der Bericht muss allerdings noch vom Plenum abgestimmt werden – und das wird er nach allgemeiner Ansicht wohl kaum in seiner gegenwärtigen Form.

Das Parlament zeigt Zähne. Kurz.

Interessanterweise stellte in derselben Ausschusssitzung Elisa Ferreira ihre Stellungnahme zum Jahreswachstumsbericht der EU-Kommission vor. Sie fordert nichts weiter als eine Umkehr: die EU-Kommission solle „die Kontraproduktivität des derzeitigen politischen Kurses“ einräumen und ihre politischen Empfehlungen für das kommende Jahr revidieren. Ferreira argumentiert in erster Linie damit, dass der Fiskalmultiplikator von der Kommission zu niedrig angesetzt wurde.

Dieses Wortungetüm, das jeden Germanisten vor Verzückung schnurren lässt, beschreibt den Einfluss, den Ausgaben der öffentlichen Hand auf das Bruttoinlandsprodukt (BIP) haben. Erhöht der Staat die Ausgaben, etwa indem er mehr Lehrer einstellt, dann steigt die Kaufkraft – zumindest, dann, wenn die Lehrer vorher nicht vorher schon anderswo gearbeitet haben und dafür ähnlich bezahlt wurden wie für ihre neue Stelle. Dann tendiert der Fiskalmultiplikator gegen null. Das ist logischerweise in erster Linie in ökonomisch rosigen Zeiten der Fall, also bei geringer Arbeitslosigkeit und vollen Auftragsbüchern. In der Krise jedoch, also bei hoher Arbeitslosigkeit, wirken steigende Ausgaben der öffentlichen Hand sehr viel stärker, weil dann, um im Beispiel zu bleiben, arbeitslose Lehrer eingestellt werden und damit die Kaufkraft und in der Folge das BIP steigt. Demnach hat Sparen in der Not einen doppelt negativen Effekt.

Und just diesen Umstand räumte in den vergangenen Wochen sogar Olivier Blanchard ein. Der Chefökonom des Internationalen Währungsfonds (IWF), gestand etwas kleinlaut ein: der IWF hat sich verrechnet, der Fiskalmultiplikator sei viel zu niedrig angesetzt worden. Statt ursprünglich 0,5 für die Euro-Zone spricht er jetzt von erforderlichen 0,9 bis 1,7. Damit gibt der IWF zu, dass die in Europa verhängte Sparpolitik vielleicht doch nicht die beste aller Lösungen war. (Ein ausführlicherer Artikel zum Fiskalmultiplikator von Jens Berger ist auf den nachdenkseiten zu lesen.)

Weiter geht es in Ferreiras Bericht mit der Forderung, öffentliche Investitionen mit der geforderten Haushaltsdisziplin in Einklang zu bringen, mit einer Forderung nach demokratischer Kontrolle bei der Haushaltsüberwachung, nach, etwas verklausuliert ausgedrückt, einer klugen Vergemeinschaftung von Teilen der Staatsschulden und schärferer Bekämpfung von Steuerbetrug und -hinterziehung.

Ob es nun Rache war dafür, dass Marisa Matias ihren EZB-Bericht durch die Abstimmung gebracht hat, ob schläfrige Abgeordnete von ihren Assistenten hastig geweckt wurden oder ob Ferreira dafür abgestraft wurde, dass sie in den Verhandlungen mit Rat und Kommission eine Einigung über das „Two-Pack“ hinauszögert: Der Bericht wurde im Ausschuss abgelehnt. Sogar Elisa Ferreira stimmte am Ende dagegen. Die anderen Fraktionen hatten ihr Papier so stark verwässert, dass sie nicht mehr dahinterstehen konnte.

Möglicherweise hatte das Abstimmungsergebnis aber auch andere Gründe: Vor allem bei den Verhandlungen über den EU-Haushalt lassen Vertreter des Rates, also der EU-Mitgliedsländer, regelmäßig durchblicken, dass ihre jeweiligen Regierungsparteien auf die Parteifreunde im EU-Parlament schon ausreichend Einfluss ausüben würden,um ihren Willen durchzusetzen. Und wer nicht spurt, wird bei der nächsten Wahl eben nicht mehr aufgestellt.

Inhaltlich gesehen ist das Ergebnis keine Überraschung, politisch schon, stellt doch die S&D die zweitgrößte Fraktion – und im EP werden normalerweise im Vorfeld Mehrheiten organisiert, sprich Kompromisse zwischen den meisten Fraktionen gesucht.

Mittlerweile hat Elisa Ferreira einen neuen Entwurf vorgelegt, der viele der Änderungsanträge aus dem Ausschuss berücksichtigt. Gegenüber der ursprünglichen kämpferischen Fassung wirkt das Papier wie ein zahmer Stubentiger: aus Investitionsprogrammen werden verschämte Hinweise auf nachhaltiges Wachstum, der ausführlich diskutierte Fiskalmultiplikator verschwindet völlig und auch die Aufforderung, gegen Steuerflucht zu arbeiten, wird erheblich weicher. Einziger Lichtblick sind ein paar Änderungsanträge aus dem Ausschuss für regionale Entwicklung, der relativ stark auf die Notwendigkeit zur Schaffung neuer Arbeitsplätze abzielt.

Am Donnerstag hat das Plenum des EU-Parlaments über die aufgeweichte Fassung von Ferreiras Bericht abgestimmt, mit wenig überraschendem Ergebnis: progressive Änderungsanträge wurden abgelehnt und der Bericht in handzahmer Form verabschiedet. Allerdings nutzte Elisa Ferreira, die wegen der massiven Änderungen wieder gegen ihren eigenen Bericht stimmte, die Gelegenheit zu einem Kommentar: Die verehrten Kolleginnen und Kollegen im Parlament wüssten, dass die Menschen andere Maßnahmen wollten, sie wüssten, wozu das Sparprogramm führe, und dennoch trüge die rechte Hälfte des Parlaments diese Politik mit.

Der EZB-Bericht kommt in der Plenarwoche vom 10. bis 14. März auf die Tagesordnung. Es bleibt also spannend. Oder mit Beuys: Demokratie ist lustig.

Der Autor ist Mitarbeiter im Wahlkreisbüro des Europaabgeordneten Jürgen Klute (LINKE).

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