Geschlossene Gesellschaft

Viele Filme des Forums sparen das Politische aus

  • Heinz Kersten
  • Lesedauer: 4 Min.

»Za Marksa...« - »Für Marx...«: der Titel könnte dem gleichnamigen Buch von Louis Althusser entlehnt sein. Für einen russischen Film von heute ist er gewiss ungewöhnlich. Aber im Vorspann ließ schon der Name eines der drei Produzenten aufmerken: Gleb Alejnikov. Er war zusammen mit seinem 1994 bei einem Flugzeugunglück ums Leben gekommenen Bruder Igor seit den 80er Jahren ein führender Vertreter des »Parallelen Kinos«. Ihre frühen experimentellen Kurzfilme waren von der russischen Konzeptkunst beeinflusst. Auch in Deutschland bekannt wurden sie 1992 mit einer Parodie auf Iwan Pyrjews populäre propagandistische Komödie »Traktoristen« von 1939. Igor Alejnikov begründete die selbstverlegte Filmzeitschrift »Cina Fantom«. Wenn jetzt »Za Marksa...« von einem Studio gleichen Namens ironisch als »Neo Sowjetischer Film« präsentiert wird, verweist das auf eine Anknüpfung an jene Traditionen.

Die junge Regisseurin des Films, Svetlana Baskova, kommt aus einer alternativen Ecke und ist durch stilistisch radikale, sozialkritische Videofilme bekannt geworden. Mit ihrem ersten für ein breites Publikum konzipierten und auf authentische Vorkommnisse gestützten Langspielfilm will sie »die entstehende Gewerkschaftsbewegung in unserem Land unterstützen«.

Schauplatz einer solchen sich formierenden Interessenvertretung ausgebeuteter Arbeiter ist ein Stahlwerk. Dessen groteske Züge tragender Direktor, die Karikatur eines Oligarchen, schreckt als Kontrahent bei der Eliminierung solcher Kräfte auch nicht vor Mord zurück. Eine der interessantesten Szenen ist die Diskussion unter Mitgliedern eines werkseigenen Filmclubs über Gogol, Belinski, Brecht und Godard. Askoldovs »Kommissarin« finden sie »großartig«, und im Hintergrund wird mehrfach ein Plakat von Schuschkins »Kalina Kasnaja« sichtbar.

Hier besonders erweist sich »Za Marksa...« als echter Forum-Film, in diesem Jahr einer unter insgesamt vier Dutzend. Politik spielt in der Sektion in diesem Jahr sonst keine große Rolle. Mali als Stichwort wird nur einmal laut - im Zusammenhang mit den Musikern eines Dorfes in Guinea-Bissau. Hierhin kehrt der von Erlebnissen als Soldat im Jahrzehnte zurückliegenden Kolonialkrieg traumatisierte Vater einer Braut zur Hochzeit aus Portugal zurück (»A batalha de Tabato«). Und der Tahrir-Platz wird einzig als Bushaltestelle in Hala Lothys eindrucksvollem ägyptischen Debüt »Al-kouroug lel-nahar« erwähnt. Dies ist eine konsequent minimalistische Studie einer jungen Frau, die ihren bettlägerigen Vater pflegt und nur einmal aus der klaustrophobischen Enge der Wohnung zu einem einsamen Gang durch das nächtliche Kairo ausbricht.

Privat bleiben auch die vier deutschen Beiträge. Bewusst alltägliche Szenen einer Familie führt Ramon Zürcher mit Jenny Schily als Hauptperson ziemlich künstlich arrangiert in »Das merkwürdige Kätzchen« vor, wobei die Titelfigur und ein großer schwarzer Hund trotz ihrer nur kurzen Auftritte noch am meisten zu interessieren vermögen.

Einer geschlossenen Gesellschaft begegnet man in Form eines Freundeskreises, der sich in einem Landhaus trifft, um einen der ihren zu betrauern, der Selbstmord begangen hat. Die Übriggebliebenen beschäftigen sich aber vor allem mit sich selbst, trinken, träumen, tanzen, vögeln, in ihrem improvisierten Spiel genau beobachtet von Regisseur Athanasios Karanikolas (»Echolot«). Von seiner Stimmung lebt auch Nicolas Wackerbarths »Halbschatten«. Eine junge Frau (Anne Ratte-Polle) folgt der Einladung ihres Geliebten in dessen südfranzösischen Bungalow, trifft aber dort nur seine beiden Kinder an, mit denen sie sich erst allmählich zu arrangieren lernt. Ereignislose Tage ohne den Hausherren.

Das titelgebende »Siewlawka« ist ein vergessenes Dorf im Grenzgebiet zwischen Polen, Deutschland und Tschechien, einzig bekannt wegen eines »Hospitals« für psychisch Kranke. Regisseur Marcin Malaszczak verbindet damit verwandtschaftliche Bezüge und eigene Erinnerungen. Sein Film blickt dokumentarisch auf das trostlose Dasein alter Männer in der heruntergekommenen Anstalt, während sie fiktiv durch eine vom Braunkohlentagebau entstellte, unwirkliche Landschaft irren. Tarkowski lässt grüßen.

Ganz real ist zwölf Jahre nach seinem Ende der Bosnienkrieg in seinen Nachwirkungen immer noch. Der serbische Film »Krugovi« von Srdan Golubovic blendet erst zurück auf eine Szene, in der der Soldat Marko einen von seinem vorgesetzten Offizier schikanierten muslimischen Kioskbesitzer verteidigt und dafür von seinen Kumpels zu Tode malträtiert wird. Dann zeigt er in der Gegenwart, wie die inzwischen verstreut lebenden Betroffenen mit jenem Vorfall umgehen. Ein Film über Schuld und falsches (?) Heldentum, die Schatten der Vergangenheit und das Problem, damit fertig zu werden. Inspiriert von authentischen Begebenheiten.

Dass die Wunden der Vergangenheit immer noch nicht verheilt sind, verdeutlicht auch die kroatisch-bosnische Koproduktion »Obrana i zastita« von Bobo Jelcic. Mostar ist immer noch eine geteilte Stadt und der kroatische Protagonist gespalten, ob er an der Beerdigung eines alten Freundes im muslimischen Teil der Stadt teilnehmen soll. Die Unentschlossenheit, mit der er seine Familie nervt, füllt im Film einen einzigen langen Tag. Wie »Krugovi« ist das Werk eine Reflexion über noch immer unbewältigte Vergangenheit.

»Ich habe eine Epidemie gesehen. Chaos. Ich habe geschrien: Leute, es sieht schlecht aus, große Armut kommt auf uns zu!« Dies sind die ersten Worte im griechischen Film »Sto Lyko« von Christina Koutsospyrou und Aran Hughes, und sie klingen wie eine Prophezeiung oder auch Beschreibung der Gegenwart des Landes. Dabei war der halb dokumentarische Film ursprünglich als Alltagsstudie und nicht nicht als Antwort auf die »Krise« konzipiert.

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