Keine Gnade für kühle Köpfe

Verhandlung zur Residenzpflicht am Landgericht Potsdam trieb absurde Blüten

In einem Prozess gegen einen Kameruner geht es um das Menschenrecht auf Bewegungsfreiheit. Die Verhandlung am Dienstag allerdings drehte sich eher um Benimmregeln und die Temperatur im Gerichtssaal.

»Nehmen Sie bitte die Mütze ab!« Immer wieder verlangte das die Richterin von dem einen oder anderen Zuschauer, der am Dienstagvormittag Saal fünf des Potsdamer Landgerichts betrat. Als die Fenster geöffnet wurden, strömte frische, aber vor allem auch kalte Luft herein. Doch die Richterin kannte in ihren Benimmregeln keine Gnade. »Nehmen Sie die Mütze ab«, »Nehmen Sie die Kapuze herunter«, verlangte sie beinahe gebetsmühlenartig und reagierte allergisch auf Widerspruch. Zuhören dürfe man hier, nur zuhören, aber als Zuschauer nichts sagen. Sie drohte sogar mit Ordnungsgeld oder Ordnungshaft, Strafen also, die wahrscheinlich drastischer wären als dass, womit der Angeklagte Bisso G. rechnen muss.

Grundsätzliche Klärung

Für Bisso aus Rathenow dreht es sich darum, ob er eine Geldbuße von 150 Euro aufgebrummt bekommt, weil er 2006 am Berliner Hauptbahnhof angetroffen und 2008 als Schwarzarbeiter auf einer Baustelle an der Storkower Straße in Berlin erwischt wurde? Darum geht es eigentlich in dem Verfahren vor dem Landgericht, das am 29. Januar begann, und das auch gestern noch kein Ende fand.

Doch der Flüchtlingsrat Brandenburg, Bisso G. und sein Verteidiger Volker Gerloff wollen die Angelegenheit notfalls vor ein Verfassungsgericht bringen und so die umstrittene Residenzpflicht für Flüchtlinge angreifen. Die illegale Beschäftigung auf der Baustelle ist hier gar nicht das Problem, sondern die Tatsache, dass der 35-Jährige in Berlin war. Denn ohne besondere Erlaubnis darf der Flüchtling aus Kamerun das Land Brandenburg nicht verlassen.

Bewegungsfreiheit sei ein Menschenrecht, die Residenzpflicht unnötig, argumentierte Rechtsanwalt Gerloff und wies noch darauf hin, dass die rot-rote Koalition, die 2009 in Brandenburg ans Ruder kam, Flüchtlingen mittlerweile Reisen nach Berlin erlaube. Es sei ja auch nicht nachvollziehbar, warum ein Mann aus Rathenow nach Forst oder Frankfurt (Oder) dürfe, nicht jedoch nach Berlin. Eine Geldbuße treffe den 35-Jährigen zwar keineswegs, weil ihm ohnehin die Zuwendungen regelmäßig gekürzt werden. Er erhalte das zusätzliche Taschengeld von 134 Euro schon lange nicht mehr, sondern lediglich die monatlichen Wertgutscheine über 180 Euro. Aber Bisso wolle die Sache grundsätzlich geklärt sehen.

In Forst hatte Bisso 2006 jemanden besuchen wollen. Der Zug passierte Berlin. Unterwegs habe der Kameruner den Bekannten angerufen und erfahren, dass dieser zufällig in Frankfurt (Oder) sei, heißt es. Darum habe er umsteigen wollen. Doch die Richterin mochte dies nicht glauben. Man erkundige sich doch vorher und kaufe nicht einfach eine Fahrkarte und setze sich ahnungslos in einen Zug, meinte sie.

Für viele Details interessierte sich die Richterin, nicht jedoch für die Zustände im Rathenower Asylbewerberheim, wo nach Schilderung von Anwalt Gerloff unzumutbare Verhältnisse herrschen. Die Post werde geöffnet und kontrolliert, beim Wachschutz seien schon Neonazis beschäftigt gewesen, in einem Zimmer stehen vier Betten - so dass für andere Möbel dort kein Platz mehr sei. Seit 2003 lebe Bisso ununterbrochen in dieser Gemeinschaftsunterkunft am Birkenweg 2, die Gerloff als »Lager« bezeichnete. Darüber hinaus habe es in der Stadt mehrfach gewalttätige Übergriffe gegeben - gegen einen Kenianer, gegen alternative Jugendliche und gegen einen Wirt, der es sich verbat, dass einer seiner Gäste »Sieg Heil!« brüllte. Es sei völlig klar, dass Bisso mal weg musste von dort.

Unerhebliche Zustände

Den Vorschlag, das Heim in Augenschein zu nehmen, lehnte die Richterin jedoch ab. Die Zustände dort seien für das Verfahren ohne Bedeutung. Von Bedeutung war dagegen, ob jemand im Saal eine Mütze trägt oder kess mit seinem Sitznachbarn tuschelt. Als die Fenster endlich geschlossen wurden, spendeten einige Zuschauer Beifall. Auch dies hätten sie im Prinzip nicht gedurft.

Morgen um 9 Uhr hält der Verteidiger sein Plädoyer. Nach dem Willen der Richterin, die sich fortwährend mit ihm beharkte, sollte er das bereits am Dienstag tun, obwohl ihm dann nur 15 Minuten dafür geblieben wären. Er hatte einen dringenden Termin am Berliner Kammergericht. Der Staatsanwalt sah dies gern ein. Doch die Richterin verlangte einen schriftlichen Nachweis für den Hinderungsgrund, ehe sie sich endlich durchrang, die Verhandlung zu vertagen.

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