Minimiertes Menschenrecht

Das Prinzip der Bundesregierung: Tausche Existenz gegen Gehorsam

  • Wolfgang Neskovic
  • Lesedauer: 7 Min.
»nd« berichtete vor kurzem über einen Sanktionierungsfall in Brandenburg, der exemplarisch für die Willkür dieses Bestrafungsinstrumentes stehen kann: Einem gelernten Koch wurde das Arbeitslosengeld II für drei Monate komplett gestrichen, weil er einen ihm zugewiesenen Computerkurs nicht besuchte. Besser gesagt nicht zum dritten Mal. Denn schon zweimal zuvor wurde er in Kursen, allerdings von anderen Trägern, in die Grundlagen der Internetnutzung eingewiesen. Damit er sich mit den nötigsten Lebensmitteln versorgen konnte, erhielt er vom Amt einen Gutschein über 176 Euro - einzulösen bei einem einzigen Einkauf, Restgeldauszahlung unmöglich.

Das Bundesverfassungsgericht hat ein Menschenrecht auf ein Minimum staatlicher Leistung geschaffen: das Existenzminimum. Es umfasst den unbedingt notwendigen Bedarf des Einzelnen zum physischen Überleben sowie zur Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben. Das Existenzminimum muss in jedem Fall und zu jeder Zeit sichergestellt sein. Das erfordern die Menschenwürde und der Sozialstaat. Doch diese Grundsätze stehen zunächst nur auf dem Papier. Zu ihrer Umsetzung ist die Bundesregierung verpflichtet. Sie verweigert sich mit einem Prinzip, das lautet: »Fördern und Fordern«. Dieses Prinzip widerspricht dem höchsten Gebot unserer Verfassung: Die Würde des Menschen ist unantastbar.

»Wir sind unserer Philosophie, keine Leistung ohne Gegenleistung, treu geblieben«, kommentierte die Bundeskanzlerin im vergangenen Sommer ihre Griechenlandpolitik. Die vom griechischen Staat verlangte Gegenleistung ist das Kaputtsparen einer Gesellschaft, die einst zu den reichsten und aufgeklärtesten Europas gehörte. Mittlerweile ernähren sich Tausende Menschen aus Armenküchen. Aus Not geben Eltern ihre Kinder in SOS-Kinderdörfern ab. Angestellte bekommen ihr Gehalt nicht. Patienten werden nur noch gegen Bares behandelt. Nach Medienberichten infizieren sich Menschen absichtlich mit HIV, um Sozialhilfe zu erhalten. Seit Anfang 2010 haben sich mehr als 2000 Griechinnen und Griechen das Leben genommen. Jeder vierte ist arbeitslos. Arbeitslose in Griechenland erhalten ein Jahr staatliche Leistungen. Danach müssen sie sehen, wo sie bleiben.

In der Bundesrepublik geht es anders zu, doch die Töne sind dieselben: Keine staatliche Leistung ohne Gegenleistung. »Eine Person, die hilfebedürftig ist, weil sie keine Arbeit findet, kann mit der Unterstützung der Gemeinschaft rechnen. Im Gegenzug muss sie alles unternehmen, um ihren Lebensunterhalt wieder selbst zu verdienen.«, begründet die Regierungskoalition die Gesetzesnormen zu Leistungskürzungen bei Hartz IV.

Die sogenannten Sanktionen sind im internationalen Vergleich die strengsten Kürzungen bei Grundsicherungsleistungen. Über eine Million dieser Sanktionen verhängten die Jobcenter in den vergangenen zwölf Monaten, mehr als je zuvor. Mehr als 10 000 erwerbsfähige Leistungsberechtigte waren im Jahresdurchschnitt 2011 sogar »vollsanktioniert«, ihnen wird kein einziger Euro ihrer Hartz-IV-Regelleistung ausgezahlt. Obwohl sie bedürftig sind. Obwohl sie vielleicht Not leiden. Obwohl sie vielleicht von Obdachlosigkeit bedroht sind oder hungern. Aus einem einzigen Grund: Weil sie nicht gehorchen.

Sanktionen sind Verhaltensnoten, bloß dass statt der Versetzung die Existenz gefährdet ist. Nimmt der Betroffene brav bestimmte »Pflichten« wahr, wird ihm sein Existenzminimum ausgezahlt. Andernfalls wird ihm kurzerhand sein Regelsatz zusammengestrichen. Wer sich dauerhaft widerständig zeigt, bekommt nicht einmal mehr die Kosten der Unterkunft und die Krankenversicherung bezahlt. Das ist gerecht, könnte man meinen, denn wer (noch) einen Job hat, arbeitet schließlich auch für sein Geld. Es überlebt nur, wer etwas dafür tut. Das ist die Gerechtigkeit einer Leistungsgesellschaft.

Doch es gibt einen Haken. Denn es gibt noch eine andere Gerechtigkeit: Die Gerechtigkeit des Sozialstaats. Sie geht von der gleichen Würde aller Menschen aus. Gleich ob sie stark sind oder schwach. Gleich, ob sie Arbeit haben oder nicht. Bereits in der jakobinischen Verfassung von 1793 heißt es: »Die öffentliche Unterstützung der Bedürftigen ist eine heilige Verpflichtung. Die Gesellschaft übernimmt den Unterhalt der ins Unglück geratenen Bürger, sei es nun, dass sie ihnen Arbeit gibt oder denjenigen, welche arbeitsunfähig sind, die Mittel ihres Unterhalts zusichert.«

Im Unterschied zur freien Konkurrenz aller gegen alle sind die Menschenwürde und der Sozialstaat auf ewig im Grundgesetz niedergeschrieben. Sie markieren die Grenze, die in Deutschland nie wieder überschritten werden darf. Jedes politische und wirtschaftliche System muss diese Werte achten. Das kann man begrüßen oder ablehnen, ändern kann man es nicht. Weder das »Volk«, noch eine Regierung. Auch der einzelne kann auf seine Menschenwürde nicht verzichten. Die Menschenwürde ist das »Muttergrundrecht« unserer Verfassung. Sie hat zur Voraussetzung einzig das Menschsein selbst.

Die Würde des Menschen kann nicht nur aktiv, sondern auch durch die Nichterbringung staatlicher Leistungen verletzt werden. Wenn die Menschenwürde des Besitzenden und des Besitzlosen gleich wiegen, kommt es nicht darauf an, ob dem einen sein Brot genommen oder dem anderen keines gegeben wird. In beiden Fällen hungert ein Mensch. Der Philosoph Ernst Bloch hat vom aufrechten Gang gesprochen. Aufrecht gehen kann der Mensch nur, wenn er sowohl von Entrechtung und Bevormundung, als auch von Not und Elend frei ist. Unser Grundgesetz nennt es die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt, die Menschenwürde zu achten und zu schützen.

Das Bundesverfassungsgericht hat im Juli 2012 seinen Teil zur Verteidigung der Menschenwürde beigetragen. Es hat entschieden, dass das Grundrecht auf Gewährleistung des Existenzminimums auch für Asylbewerberinnen und Asylbewerber gilt. Die Leistungen des Asylbewerberleistungsgesetzes, die erheblich unter dem Hartz-IV-Niveau liegen, sind evident unzureichend. Nach dem Bundesverfassungsgericht offenbart »ein erheblicher Abstand von einem Drittel zu Leistungen nach dem Zweiten und Zwölften Buch Sozialgesetzbuch […] ein Defizit in der Sicherung der menschenwürdigen Existenz.« Das muss auch für die Sanktionen bei Hartz IV gelten. Eine Sanktion hat zur Folge, dass ein bedürftiger Mensch mit lediglich 40 bis 70 Prozent der ohnehin nicht ausreichenden Regelleistung oder sogar ganz ohne Bargeld und Sachleistungen auskommen muss. Dies widerspricht der Vorgabe des Gerichts, nach der »der Gesetzgeber seine Entscheidung an den konkreten Bedarfen der Hilfebedürftigen« auszurichten hat.

Die verfassungsrechtliche Wahrheit ist: Für die Höhe der staatlichen Leistung muss der Bedarf der Bürgerinnen und Bürger entscheidend sein. Ihn auszurechnen und zu garantieren, ist Sache des Gesetzgebers. Ihn zu beschneiden nicht. Das Existenzminimum muss bei gleichem Bedarf stets gleichermaßen gewährt werden. Der für die eigene Existenz notwendige Bedarf sinkt nicht dadurch, dass jemand eine andere Staatsangehörigkeit besitzt. Er sinkt auch nicht dadurch, dass jemand sich nicht regelkonform verhält. Das Existenzminimum muss nach dem Bundesverfassungsgericht »in jedem Fall und zu jeder Zeit« sichergestellt sein. Denn die Menschenwürde ist »migrationspolitisch nicht zu relativieren«. Sie ist auch fiskalpolitisch und arbeitsmarktpolitisch nicht zu relativieren. Die Abhängigkeit eines Menschenrechts von Bedingungen bedeutet in Wirklichkeit seine Einschränkung. Die Bundesregierung hält trotzig an ihren Prinzipien fest. Die lauten: Tausche Gehorsam gegen Existenz.

In der Antwort auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag zu den Auswirkungen von Sanktionen wird immer wieder auf den Grundsatz des Förderns und Forderns verwiesen. »Bedarfsabhängige und am Fürsorgeprinzip orientierte Sozialleistungssysteme sind nur funktionsfähig, wenn dieser Grundsatz konsequent angewandt wird«, schreibt die Bundesregierung. Konsequent ist denn auch ihre Haltung: »Wiederholte Verstöße gegen die Selbsthilfeobliegenheit führen daher folgerichtig zu verstärkten Sanktionen«. Die LINKE stellte eine Nachfrage. Sie wollte wissen, ob die Bundesregierung es also für »folgerichtig« halte, wenn Menschen infolge einer »Totalsanktion« hungern oder ihre Wohnungen verlieren. Die Frage blieb unbeantwortet.

Die Bundesregierung verweist auf die fachlichen Hinweise der Bundesagentur für Arbeit. Mit diesen Hinweisen soll sichergestellt werden, dass die Jobcenter ihr Ermessen richtig ausüben und bei Totalsanktionierten auf Antrag Sachleistungen bewilligen. »Welche Verbindlichkeiten haben die fachlichen Hinweise der Bundesagentur für Arbeit für die zugelassenen kommunalen Träger im SGB II?«, wollte die LINKE wissen. Die Antwort lautet: »Keine«. Ob eine nennenswerte Zahl der Betroffenen überhaupt Sachleistungen und Lebensmittelgutscheine beantragt, weiß die Bundesregierung nicht. Statistiken werden nicht erhoben. Nach dem Gesetzeswortlaut ist eine Sachleistungsgewährung selbst im Falle einer Totalsanktion nicht zwingend. Ebenso gut könnte man einen Antragssteller verhungern lassen. In Paragraf 31 a Absatz 3 SGB II wird geregelt, dass Jobcenter im Sanktionsfall Sachleistungen oder geldwerte Leistungen erbringen »können«. Das bedeutet ein Ermessen der persönlichen Sachbearbeiter darüber, ob und welche Sachleistungen bewilligt werden. In der Regel wird darüber der Sachbearbeiter entscheiden, der bereits die Totalsanktion verhängt hat.

Menschenrechte gelten für alle. Sie stehen nicht im Ermessen einer Regierung oder eines Sachbearbeiters im Jobcenter. Sie können nicht an Bedingungen geknüpft werden. Auch soziale Grundrechte sind unverkäuflich und nicht verhandelbar. Nicht nur fleißigen Arbeitslosen, die täglich Bewerbungen schreiben und jede unterbezahlte Arbeit annehmen, steht eine menschenwürdige Existenz zu. Auch Menschen, die sich versehentlich oder bewusst der Zusammenarbeit mit den Behörden entziehen, Personen ohne Aufenthaltstitel, Strafgefangene in Haft und alle weiteren, unabhängig von ihrer Herkunft und ihrer Persönlichkeit, haben Anspruch auf ein menschenwürdiges Existenzminimum. Ebenso, wie sie beispielsweise ein Menschenrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit haben. Das Prinzip des »Förderns und Forderns«, das derzeit im deutschen Sozialrecht gilt, ist ein Rückfall hinter die Errungenschaft allgemeiner Menschenrechte.

Wieder einmal wird es wohl das Bundesverfassungsgericht sein, das irgendwann einschreitet, wenn ein beherztes Sozialgericht ihm die Frage vorlegt. Bis dahin werden weiter Sanktionen verhängt, die Menschen in noch mehr Not und Armut stürzen. Bis dahin wird die Menschenwürde tagtäglich verletzt. Gäbe es einen Verfassungsschutz, der diesen Namen verdient, so müsste er schleunigst handeln.

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