Was ist bloß in die Magyaren gefahren?

Mit Pfeil, Kreuz und Krone driftet Ungarn immer weiter nach rechts

»Es ist schlimm, ganz schlimm«, sagte mir vor zwei Jahren der ungarische Philosoph G.M. Tamás: »Wir haben eine halbe Diktatur.« Noch in frischer, unguter Erinnerung ist, was im November vergangenen Jahres in Budapest geschah: Ein Parlamentsabgeordneter hatte die Erfassung jüdischer Kabinettsmitglieder gefordert, da diese eine »Gefahr für die nationale Sicherheit« darstellen könnten. Es gab daraufhin einen europaweiten Aufschrei der Empörung. Und auch in Budapest sorgte dieses Ansinnen für Entsetzen. Aus Protest trugen mehrere ungarische Abgeordnete am folgenden Tag »Gelbe Sterne«.

Was ist bloß in Ungarn los? Seit Jahren blicken europäische Demokraten mit großer Sorge auf dieses osteuropäische Land, das einen beängstigenden Rechtsruck erfuhr. Da kommt dieses Buch gerade recht. Es beruhigt nicht, im Gegenteil. Was hier geschildert wird, ist haarsträubend. Von der »lustigsten Baracke« in Europa ist nichts zu spüren.

Die eingangs geschilderte Episode mag zunächst harmlos klingen: Bedienstete einer Straßenmeisterei tauschen Grenzschilder aus. Auf diesen ist nunmehr »Magyaroszaág« (Ungarn) statt »Magyar Köztárság« (Republik Ungarn) zu lesen. Bezeichnend für den gesellschaftlichen Wandel. Formell ist Ungarn zwar weiterhin eine Republik. »Doch die Bereinigung des offiziellen Landesnamens vom republikanischen Etikett ist Programm«, so die Herausgeber.

Die Nation verkörpert offiziell nunmehr die »Heilige Ungarische Krone« von Stefan I., dem ersten ungarischen König. Mit »Gott segne die Ungarn!« beginnt das »Nationale Glaubensbekenntnis« in der neuen ungarischen Verfassung. Aufklärung adé. Humanismus adé. Presse- und Meinungsfreiheit, für die 1848/49 Lajos Kossuth und Sándor Petőfi auf die Barrikaden gingen, sind unterhöhlt. Nationalismus, Rassismus und Antiliberalismus halten das Land im Würgegriff. Gebetsmühlenartig wird der Vertrag von Trianon 1920 beklagt, durch den das im Ersten Weltkrieg an Deutschlands Seite kämpfende Ungarn um zwei Drittel seines Territoriums »beraubt« worden sei.

»Was der seit 2010 mit einer Zweidrittelmehrheit regierende Fidesz als ›nationale Revolution‹ bezeichnet, ist Ausdruck einer völkischen Agenda, die alle Bereiche der Gesellschaft erfasst hat.« Maßgeblich trug dazu die rechtsradikale Partei Jobbik bei, die drittstärkste Kraft im Parlament. Ihre die faschistischen Pfeilkreuzler kopierenden Garden schüren Angst und exekutieren Gewalt. Antisemitismus und Antiziganismus, der schon mehrfach zu blutigen, ja mörderischen Anschlägen auf Roma und Sinti führte, ist Alltag in Ungarn.

Der Rechtsruck kam nicht überraschend, stellen die Autoren klar: »Statt einer stetigen Öffnung hin zu einer pluralen Gesellschaft war seit der Wende 1989/90 in Wirklichkeit eine kontinuierliche völkisch-ethnische Schließung zu beobachten, die mit den Wahlen 2010 nun auch parlamentarisch versiegelt wurde.« Ein großer völkischer Block sei entstanden, zu dem neben Jobbik und Fidesz deren Satellitenparteien, Teile der Justiz, Medien, bürgerlichen Parteien, Intelligenz und Kirchen gehören. Es gibt in Ungarn völkische Wohnsiedlungen. Jobbiknahe Taxiunternehmen werben mit der Aufschrift »Judenfreies Auto«. Und eine Supermarktkette verkauft nur »wahren Magyaren echte magyarische Waren«.

Die Stigmatisierung des politischen Gegners erfolgt zumeist in Form antisemitischer und antikommunistischer Konnotation. »Mein letzter Rat an die liberal-bolschewistischen Zionisten, die unser Land ausgeraubt haben, ist, sich damit zu beschäftigen, wohin sie fliehen und wo sie sich verstecken. Denn es gibt keine Gnade!«, tönte eine Jobbik-Abgeordnete im EU-Parlament. Russenphobie äußert sich u. a. in der Beschädigung des sowjetischen Befreiungsdenkmals in Budapest. Selbst auf die Büste des britischen Premiers Churchill pinselten Antiliberale nächtens einen Davidstern. Gulag wird mit Auschwitz gleichgesetzt, der Faschismus, vor allem der eigene unter Reichsverweser Horthy, relativiert. Mehr noch: Es erfolgt eine Opfer-Täter-Umkehrung. Zu studieren im »Haus des Terrors« in Budapest, dessen Direktorin Beraterin Orbáns in dessen erster Amtszeit war. Die Autoren des Bandes widersprechen der vielfach geäußerten Ansicht, Orbán sei das kleinere Übel.

Es gibt ein »anderes Ungarn«, versichern die Autoren und stellen es vor. 2014 stehen wieder Wahlen an. Der Band skizziert das momentane Kräfteverhältnis. Für demokratische und linke Parteien wird es schwer. Die Autoren setzen auf den Widerstand der Straße und auf Gruppen wie Milla (Eine Million für die Pressefreiheit) und Szolidaritás (Solidarität, hervorgegangen aus Protesten gegen Orbáns Arbeitsgesetze). Zuversicht schöpfen sie angesichts der 70 000 Menschen, die die außerparlamentarische Opposition 2012 gegen Orbán mobilisierte.

Andreas Koob/Holger Marcks/Magdalena Marsovszky: Mit Pfeil, Kreuz und Krone. Nationalismus und autoritäre Krisenbewältigung in Ungarn. Unrast-Verlag. 207 S., br., 14 €.

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