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Halb und halb

Langzeitstudie offenbart erstaunliche Ansichten einer Generation Ostdeutscher

  • Fabian Lambeck
  • Lesedauer: 3 Min.
Seit mehr als zwei Jahrzehnten werden Hunderte Ostdeutsche des Jahrgangs 1973 regelmäßig zur ihren Ansichten befragt. Nun liegen die Ergebnisse der letzten Erhebung aus dem Jahre 2012 vor. Und siehe da: Beinahe 90 Prozent der Befragten fühlen sich gleichermaßen als Bürger der DDR und der Bundesrepublik.

Die »Sächsische Längsschnittstudie« gilt als eine der weltweit am längsten andauernden sozialwissenschaftlichen Erhebungen. Seit 1987 begleiten die Autoren 587 Ostdeutsche durch die Zeitläufte. In regelmäßigen Abständen wollen die Forscher dabei von ihnen wissen, ob und wie sich ihre Einstellungen zu DDR, Wiedervereinigung, Wirtschaft und Politik verändert haben. Die mittlerweile 26. Erhebung fand im letzten Jahr auch mit Hilfe der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS) statt. Zudem finanzierte die parteinahe Stiftung der LINKEN ein Buch, das die Erkenntnisse der Langzeitstudie auf rund 350 Seiten zusammenfasst.

Zur Vorstellung des Buches »Innenansichten der Transformation« lud RLS-Chefin Dagmar Enkelmann am Montag in die Räume der Bundestagsfraktion der LINKEN. Eines war für Enkelmann nach der Lektüre klar: »Die DDR-Sozialisation hält bis heute an«. Zwar sehen sich 87 Prozent der Befragten als »Bürger der Bundesrepublik Deutschland«. Gleichzeitig gaben aber 89 Prozent an, sich ebenfalls als Bürger der DDR zu fühlen. Dabei vollziehen die Teilnehmer einen ideologischen Spagat, wie Studienbetreuer Hendrik Berth vom Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Dresden betonte. So wünsche sich kaum einer die politischen Verhältnisse in der DDR zurück. Andererseits wachse jedoch ihre Unzufriedenheit mit dem heutigen Gesellschaftssystem, insbesondere im Hinblick auf die Sozialpolitik. Deshalb schneide die DDR im Systemvergleich auf diesem Gebiet zunehmend besser ab, so Berth.

Die Erfahrungen mit eigener Arbeitslosigkeit dürften hierbei auch eine Rolle spielen. Zwar sind derzeit nur zwei Prozent der Teilnehmer tatsächlich ohne Arbeit, aber zwei Drittel der Teilnehmer waren mindestens einmal nach der Wende erwerbslos. Jeder Dritte gleich mehrmals. Und so kann es kaum überraschen, dass sich 36 Prozent als Verlierer der Einheit sehen, während sich 63 Prozent auf der Gewinnerseite wähnen. Auch wenn Bundespräsident Joachim Gauck die DDR auf die Formel »Bevormundung, Unterdrückung, Unrecht und Leid« reduziert: Viele der Studienteilnehmer empfanden das Leben im Arbeiter- und Bauernstaat wohl weniger bedrückend als der Rostocker Pfarrer. Mit der Aussage »Ich bin froh, dass es die DDR nicht mehr gibt«, mochte sich nicht einmal die Hälfte von ihnen identifizieren. Gleichzeitig befürworteten aber mehr als 88 Prozent die Vereinigung.

Die Generation 1973 ist in der Bundesrepublik angekommen, ohne jedoch ihre DDR-Sozialisation abzustreifen. Dies zeige sich ganz besonders deutlich im Bereich Familienpolitik, wie Studienbetreuerin Yve Stöbel-Richter erklärte. »Die Teilnehmerinnen haben sich ihr eigenes Fertilitätsmuster bewahrt«, so Stöbel-Richter, die an der Universität Leipzig forscht. Demnach hätten sich die jungen Frauen nach der Wende »nicht an das westdeutsche Geburtenverhalten angepasst«, erläuterte die Diplomsoziologin. Sprich: Die Frauen des Jahrgangs 1973 bekamen im Schnitt mehr Kinder als ihre Altersgenossinnen im Westen. »Die Vereinbarkeit von Kind und Beruf tragen die Frauen wie eine Standarte vor sich her«, resümierte Stöbel-Richter.

Nun interessiert sich auch das Fernsehen für die »Generation Wende«. Heute Abend läuft im MDR der Dokumentarfilm »Plötzlich waren wir Bundesbürger«.

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