Staunen über Aristoteles

Adelbert Reif im Gespräch mit dem Altphilologen Hellmut Flashar

  • Lesedauer: 9 Min.

Wenn Adelbert Reif (1936-2013) uns in der Redaktion anrief, um von den jüngsten Gesprächen zu berichten, die er geführt hatte und uns nun zum Abdruck anbot, eröffnete er das Telefonat stets mir den ungeheuer freundlich artikulierten Worten »Ich grüße Sie!« - das »rrrr« gerollt, in die Länge gedehnt das »üüüü«. Leidenschaftlich erzählte er dann von seinen Begegnungen mit Künstlern oder Schriftstellerinnen, Wissenschaftlerinnen oder Philosophen. Jedes dieser Interviews, die Adelbert Reif über Jahrzehnte hinweg mit bedeutenden Denkern der Gegenwart führte, schien ihm abermals gänzlich neue Erkenntnisse über die Welt, die Gesellschaft, auch über ihn selbst geschenkt zu haben. Tatsächlich lasen sich seine Gespräche, wenn sie dann in Druckform bei uns eintrafen, jedes Mal so, als wohne man dem lebendigen Austausch zweier glühend in ihren Stoff vertiefter Menschen bei. Erst am Textende holte man Luft - und bemerkte, dass diese Dialoge für den Abdruck auf den Seiten einer Tageszeitung in der Regel viel zu lang waren. Sie zu kürzen, war - leider - oft unausweichlich.

Als vorgestern auf dem Telefondisplay Reifs Münchner Nummer aufleuchtete, meldete sich am Hörer nicht die vertaute Stimme. Am Apparat war seine Ehefrau und Arbeitsgefährtin Ruth Renée Reif. Besonnen unterrichtete sie uns davon, dass ihr Mann in der Nacht zuvor friedlich eingeschlafen war. Adelbert Reif, der im Laufe der Jahrzehnte mit Ilse Aichinger, Hannah Arendt, Jan Assmann, Ernst Bloch, Hilde Domin, Max Frisch, Erich Fromm, Julien Green, Werner Heisenberg, Eugène Ionesco, Erich Kästner, Arthur Koestler, Georg Lukács, Golo Mann, Gerhard Roth, Martin Walser, Carl Zuckmayer und vielen anderen Intellektuellen großartige Gespräche geführt hat, ist im Alter von 76 Jahren verstorben.

Der hier abgedruckte Text gibt eines seiner letzten Interviews wieder. In gewisser Weise erzählt dieser Dialog über Aristoteles auch viel über die Arbeit des Publizisten Adelbert Reif. Immer galt sein Interesse den großen Fragen des Seins. Und immer spürte er ihnen bis ins kleinste Detail nach, indem er den Umgang mit Wissen suchte. Seine Leser an diesem Prozess teilhaben zu lassen, erfüllte ihn mit Freude. Martin Hatzius


Reif: Herr Professor Flashar, mit Ihrer Monografie über Aristoteles haben Sie es unternommen, Leben und Werk des Platon-Schülers wieder in den öffentlichen kulturellen Diskurs einzubringen. Wie soll man Aristoteles heute lesen?
Flashar: Es gibt Bereiche seiner Philosophie, die einen direkt ansprechen. Wer seine »Ethik« liest, wird unmittelbar berührt von seinen Aussagen über Freundschaft, Lust und Verwirklichung von Gerechtigkeit. Auch seine »Rhetorik« ist heute erneut von Bedeutung. Die Frage »Wie soll man reden?« ist sehr aktuell. Dann wieder stößt man auf Texte, die man nur staunend zur Kenntnis nehmen kann. Wenn er etwa naturwissenschaftliche Phänomene beschreibt wie den Hagelschlag, ist das ein Faszinosum, egal ob das in allen Einzelheiten stimmt oder nicht. Ähnliches gilt für seine logischen Schriften.

Ist es nicht seltsam, mit welchem Eifer sich Aristoteles auf dem Gebiet der Naturwissenschaften betätigte? Wie verstand er die Philosophie?
Tatsächlich hat er seinen Philosophiebegriff den Naturwissenschaften angenähert. Platon verstand unter Philosophie »Streben nach Wissen«. Auch Sokrates fühlte sich - man denke an seinen berühmten Ausspruch »Ich weiß, dass ich nichts weiß« - immer unterwegs, um etwas zu erkennen. Aristoteles führte seinen Philosophiebegriff dagegen wieder auf den ursprünglichen Gebrauch des Wortes »philosophia« zurück: Umgang mit Wissen zu haben.

Hat er das gesamte Wissen seiner Zeit in sich vereint?
Das kann man mit voller Überzeugung sagen. Ich wüsste nur zwei Gebiete zu nennen, die er nicht durch eigene Forschung bereichert hat, das waren die Medizin und die Botanik. Er überblickte das medizinische Wissen seiner Zeit. Aber er überließ es anderen, darüber zu arbeiten. Ähnliches erfolgte auf dem Gebiet der Botanik. Es ist evident, dass Theophrast, ein Schüler des Aristoteles, die Botanik nach genau den gleichen Grundsätzen systematisiert hat wie dieser die Zoologie. Theophrast wurde dadurch zum Vater der Botanik.

Was an der aristotelischen Philosophie muss man heute als überholt ansehen?
Mehr als der Philosoph läuft der Philologe Gefahr, in seiner Liebe zur Antike und zu Aristoteles alles für bare Münze zu nehmen, was heute doch etwas anders gesehen werden muss. Ich denke zum Beispiel an die Stellung der Frauen sowie der Sklaven. Da ist Aristoteles ein Kind seiner Zeit.

War er wie ja auch sein Lehrer Platon ein Befürworter der Sklavenhaltergesellschaft?
Wenn wir Maschinen hätten, bräuchten wir keine Sklaven, schreibt er an einer Stelle sehr hellsichtig. Er war kein Befürworter des Sklavenstaates. Aber er wollte die Sklaverei auch nicht abschaffen. Was er über die Sklaven schrieb, hat mich immer fasziniert. Er betonte, Sklave sei man nur von Natur aus. Es gebe Naturen, die untertanartig konstruiert seien. Man wird das heute bestreiten. Aristoteles aber lehnte damit die in der Antike herrschende Form der Sklaverei durch Kriegsgefangenschaft implizit ab. Seiner Auffassung nach konnte einer, der von Natur aus ein Freier war, kein Sklave sein. Denkt man das weiter, führt es zur Infragestellung der antiken Institution der Sklaverei.

Spielen die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse eine Rolle für die Gültigkeit der Philosophie des Aristoteles?
Er konzentrierte sich in seinem politischen Denken auf das Gebilde der antiken Polis, jenes Stadtstaates, von dem er sagte, er müsse so beschaffen sein, dass man von einem bis zum anderen Ende sehen könne. Wichtig erscheint mir dennoch die scharfe Ablehnung jeder Form von Diktatur. Aristoteles nennt es »Tyrannis«. In einem bewegenden Kapitel seiner »Politik« beschreibt er, wie eine solche Staatsform funktioniert, in der jeder jeden bespitzelt und keiner wagt, sich offen auszusprechen. Das sind Passagen, die wie für heute geschrieben scheinen. Auch die Einheit von Ethik und Politik, die Aristoteles vertritt und die uns verloren gegangen ist, können wir mit ihm wieder zurückgewinnen.

Sie widmen der »Ethik« breiten Raum. Inwiefern hat Aristoteles die Grundlage gelegt für die Ethik, wie sie sich nach ihm etwa in Form der christlichen Ethik entwickelt hat?
Es gibt Bereiche wie die Nächstenliebe, die nicht in der aristotelischen Ethik vorkommen und die erst mit dem Christentum auftauchen. Auch hat Aristoteles die Frömmigkeit, die neben Tapferkeit, Gerechtigkeit und Weisheit zu den vier Kardinaltugenden zählte, nicht übernommen. Er hat dem Religiösen keinen Eingang in sein ethisches Denken gestattet. Wahrscheinlich hätte es die Rationalität seiner Überlegungen gestört.

Hatte Aristoteles eine atheistische Weltsicht?
Er wies den Schöpfergedanken, der vor ihm bestand, von sich. Die Mehrzahl der Philosophen vor ihm vertrat die Konzeption einer Schöpfung aus einem Nichts, einem Urgrund wie dem Wasser oder einem anderen Element. Platon ließ in seinem »Dialog Timaios« einen »Demiurg« genannten Schöpfer wie einen Handwerker die Welt erschaffen und die Konstanten wie Zeit und Bewegung herstellen. Aristoteles lehnte diese Vorstellung ab. Die Welt ist für ihn ewig und was ewig ist, hat keinen Anfang. Von daher gibt es in seinem Denken keine religiöse Komponente. Stattdessen konzipierte er einen philosophischen Gottesbegriff, den er provozierend »Denken des Denkens« nannte.

Wäre ein solcher philosophischer Gottesbegriff, dem ein Prinzip und nicht ein Wesen zugrundeliegt, nicht genau das, was viele heute in fernöstlichen Weisheitslehren suchen?
Tatsächlich wird über den aristotelischen Gottesbegriff, insbesondere von philosophischer Seite, heute viel diskutiert. Allerdings bedenkt man dabei nicht, dass dieser Begriff bei Aristoteles eng mit seiner Kosmologie verbunden ist, die für uns heute keine Gültigkeit mehr besitzt. Spätestens seit Galilei wissen wir, dass sich nicht die Sonne um die Erde dreht. Aber wenn man diese kosmologische Dimension der Gotteslehre beiseite lässt, hat man Aristoteles etwas einseitig gelesen.

Eignet sich Aristoteles generell weniger für spekulative Ausdeutungen?
Aristoteles ist in der Rezeption nicht von der Tiefe des Ahnens und den Möglichkeiten des Ausdeutens geprägt wie sein Lehrer Platon. Da Platon immer nur Dialoge schrieb, in denen er wie in einem Drama andere Personen sprechen lässt, erscheint sein Werk geheimnisvoll und man kann auch viel hineingeheimnissen. So war Platon anregend für ein Denken, das manchmal auch irrationale Seiten hat. Aristoteles ist dagegen handfester und der Realität näher. Während Platon immer wieder betonte, dass wir unsere Eindrücke als Schein abtun müssten, hatte Aristoteles ein ganz unverstelltes Zutrauen in Wahrnehmung, Vorstellung und Phantasie. Er gab den Menschen wieder Mut, dem zu vertrauen, was sie hörten und sahen. Allerdings forderte er sie auf, diese Eindrücke einzuordnen und mit dem Denken zu verbinden.

Ist das der Grund, warum Sie ihn im Untertitel Ihres Buches als »Lehrer des Abendlandes« bezeichnen? Spricht dagegen nicht die frühe Rezeption von Aristoteles im arabischen Raum?
Es ist auffällig, wie die spätantike arabische Welt auf Aristoteles aufmerksam wurde und von seinen Werken Übersetzungen anfertigte. Diese arabischen Übersetzungen wurden in der Folge weiter ins Lateinische übersetzt und drangen vor bis nach Spanien. Auf diesem Weg kamen sie ins europäische Abendland. Dieser Strom der arabischen Überlieferung verdient es, heute im interkulturellen Dialog wieder stärker beachtet zu werden. Ich hatte daher zunächst eine gewisse Reserve, Aristoteles »Lehrer des Abendlandes« zu nennen. War er nicht auch Lehrer des Morgenlandes? Tatsächlich aber wirkte die aristotelische Philosophie über das Mittelalter hinaus nicht mehr auf die arabische Welt zurück. Es war eine Einbahnstraße.

Sie bezeichnen Aristoteles als den am meisten kommentierten griechischen Autor. Ist sein geistiger Kosmos noch immer nicht ausgeschöpft? Steht die Aristoteles-Forschung auch heute vor neuen Aufgaben?
Über Aristoteles wurde ungeheuer viel gearbeitet. Allein in den letzten Jahrzehnten erschienen tausende von Arbeiten. Dennoch bin ich überzeugt, dass die Weiterentwicklung des philosophischen Denkens immer wieder neue Zugänge zu Aristoteles eröffnen wird. Was mir als wünschenswert erscheint, wäre eine Erforschung der literarischen Struktur des aristotelischen Werkes. Man spricht von Nachschriften, Lehrschriften, Notizen, Kladden. Das stimmt aber so nicht. Manche Passagen sind literarisch bis ins Letzte ausgefeilt, andere nicht. Was bedeuten diese Unterschiede? Da ist es ein Jammer, dass wir die 19 Dialoge, die Aristoteles schrieb, nicht haben. Sie prägten Jahrhunderte lang im Hellenismus das Bild von ihm.

Aristoteles sah im Staunen den Beginn des Philosophierens. Ist Ihnen dieses Staunen durch alle Jahrzehnte Ihres Lebens erhalten geblieben?
Ja, sowohl das Staunen, wie Aristoteles es meint, über die Phänomene, mit denen die Philosophie sich beschäftigt, als auch das Staunen über Aristoteles selbst. Seitdem ich 1949 zum ersten Mal die aristotelische »Ethik« auf Griechisch las, habe ich das Staunen über ihn nicht verloren.

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