Zuhause in Hellersdorf

Während Rechte weiter hetzen, ist die Debatte zur Sicherheit von Flüchtlingen voll entbrannt

  • Marlene Göring und Martin Kröger
  • Lesedauer: 5 Min.

»Lassen Sie sich nicht provozieren«, tönt es aus den Lautsprechern der Polizeieinsatzwagen. Sie stehen am Mittwochmorgen in der Hellersdorfer Straße und trennen etwa 120 Rassismusgegner von ihren Kontrahenten auf der anderen Straßenseite: der Bürgerbewegung Pro Deutschland, die gerade mal zu zehnt erschienen ist. Es ist ein heikler Ort, den sich Pro Deutschland zum Wahlkampf ausgewählt hat: Wochenlang schon gibt es Streit zwischen den Anwohnern um ein neues Flüchtlingsheim, nur einige Blocks entfernt. Seit Montag ziehen dort die ersten Asylbewerber ein.

»Die aktuelle Auseinandersetzung weckt schlimme Erinnerungen an die 1990er«, sagt Petra Pau (LINKE), die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages. Die große Unterstützung für die Flüchtlinge zeige, dass man aus diesen Erfahrungen gelernt habe. »Wir Demokraten müssen zusammenhalten«, betont Pau. Das meint auch Marlitt Köhnke. »Von den Behörden kam im Vorfeld wenig«, räumt die SPD-Bezirksverordnete jedoch ein. Die Zeit zwischen Bekanntgabe des Standortes bis zur Belegung sei zu kurz gewesen, um ein Anwohner-Netzwerk zu etablieren, das die Flüchtlinge unterstützt. Eine »politische Blödheit« sei auch der Zeitpunkt der Eröffnung gewesen. »Das nutzen die rechten Parteien vor der Wahl für sich aus.« Allerdings mit eher mäßigem Erfolg, wie die reservierten Blicke der Passanten bei der Pro-Deutschland-Kundgebung beweisen. Die Mitglieder der Anwohner-Initiative, die gegen das Wohnheim mobil macht, entsprächen auch nicht der Klientel der Partei. »Das sind zum Großteil Eigenheimbesitzer, die Angst um Grundstückspreise und ihre Gartenzäune haben«, weiß Köhnke.

Asylsuchende in Deutschland

Die Zahl der Asylsuchenden in Deutschland nimmt seit geraumer Zeit stark zu. In den ersten sieben Monaten 2013 stellten nach Angaben des Bundesinnenministeriums 52 754 Menschen erstmals einen Asylantrag. Das sind 90 Prozent mehr als in den ersten sieben Monaten des Vorjahres. Die Entwicklung setzte bereits im vergangenen Jahr ein. 2012 beantragten rund 65 000 Menschen erstmals Asyl - 41 Prozent mehr als im Vorjahr. Die meisten kommen derzeit aus der Russischen Föderation. An zweiter Stelle stehen Flüchtlinge aus dem Bürgerkriegsland Syrien, deren Anträge zu 95 Prozent angenommen werden. dpa

In der Notunterkunft in der Carola-Neher-Straße sind bis zum Mittwoch 37 Flüchtlinge untergebracht worden, am Donnerstag sollen es 50 werden, am Freitag 90. Später können es bis zu 200 werden, sagt die Sprecherin des Landesamtes für Gesundheit und Soziales (LAGeSo), Silvia Kostner. Das LAGeSo, das die Unterbringung der Asylsuchenden in Berlin organisiert, versucht derzeit mit Sprachmittlern die durch die Medienpräsenz und Demonstrationen verunsicherten Flüchtlinge zu beruhigen. Die Arbeiterwohlfahrt-Mitte (AWO) bestätigt am Mittwoch allerdings auch Berichte über Asylbewerber, die wegen der angespannten Situation in die Erstaufnahmeeinrichtung in der Motardstraße in Spandau zurückgekehrt waren und danach vom LAGeSo gezwungen wurden, zurück nach Hellersdorf zu gehen. »Wir haben für eine Nacht gesagt, besser auf Matratzen zu schlafen als in einer Angstsituation«, sagt die AWO-Sprecherin. Aber danach habe man die Flüchtlinge ans LAGeSo verweisen müssen, an das die AWO vertraglich gebunden ist.

In Berlin leben derzeit 6500 Flüchtlinge in Sammelunterkünften. In den kommenden Monaten sollen 1000 Menschen zusätzlich in den einzelnen Bezirken aufgenommen werden, erklärt eine Sprecherin von Sozialsenator Mario Czaja (CDU). Ein weiteres neues Heim für 220 Asylsuchende soll im Dezember in Pankow öffnen.

Berlins Integrationsbeauftragte Monika Lüke hält angesichts der Lage vor der Notunterkunft in Hellersdorf ein Demonstrationsverbot rund um Flüchtlingsheime für »sinnvoll«. »Die Demonstrationsfreiheit darf nicht auf Kosten der Menschen gehen, die erneut um Leib und Leben fürchten müssen«, fordert Lüke. Es gehe jedoch nicht darum, die Sorgen und Kritik von Anwohnern abzuwürgen. Unterstützung für ihren Vorschlag nach einer Bannmeile bekommt Lüke von der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus. »Ein Verbot der rechten Demonstrationen hätte die Polizei zumindest prüfen können«, sagt der Fraktionsvorsitzende der LINKEN, Udo Wolf gegenüber »nd«. »Bei vermeintlich linksextremen Veranstaltungen legt die Polizei sonst auch Kreativität an den Tag, Auflagen zu finden«, meint Wolf.

Die Linksfraktion will jetzt eine gemeinsame Erklärung aller Parteien im Abgeordnetenhaus für die Flüchtlinge anstoßen. Das wird auch von Grünen-Fraktionsvorsitzenden Ramona Pop angeregt. Ob die CDU den alten demokratischen Konsens mitträgt, bezweifelt Udo Wolf allerdings. »Der Konsens gegen Rechtsextremismus ist am Aufweichen«, sagt er in Hinblick auf seiner Meinung nach »entgleisende« Äußerungen von Innensenator Frank Henkel (CDU), der die rechtsextremen Proteste in Hellersdorf und die Flüchtlingsproteste am Kreuzberger Oranienplatz in einem Atemzug genannt hatte.

Am Wohnheim in Hellersdorf werden währenddessen Plakate gemalt - in Deutsch, Französisch und Farsi, damit sie auch dessen Bewohner lesen können. »Sie sind verängstigt«, sagt Dirk Stegemann. Er hat die ständige Mahnwache angemeldet, die seit Montag Pöbeleien und rassistische Übergriffe verhindern soll. Tatsächlich kam es seitdem immer wieder zu Zwischenfällen. Am Dienstagabend bei einer NPD-Kundgebung in unmittelbarer Nähe wurden 25 Personen festgenommen. Wegen »Landfriedensbruch, Verstößen gegen das Versammlungsgesetz und eine versuchte Gefangenenbefreiung«, bestätigte Polizeisprecher Stefan Redlich gegenüber »nd«. Ein Polizist habe einen Jochbeinbruch erlitten, als ihn eine Flasche im Gesicht traf.

Für die Rassismusgegner ist es eine bizarre Situation: »Wir verteidigen eine Unterkunft, die wir gar nicht wollen«, so Stegemann. Sie fordern eine dezentrale Unterbringung statt Heime. »Die sind völlig kontraproduktiv«, meint Stegemann. Viele der Probleme kämen erst durch sie zustande. Für die angespannte Lage macht Stegemann auch den Bezirk verantwortlich. »Man hätte ein Willkommensfest organisieren und Stadtteilinitiativen einladen können.« Stattdessen sei alles verdeckt organisiert und niemand informiert worden - auch die Flüchtlinge nicht. Deren Unsicherheit halte an, die Unterstützer vor Ort dürften nicht ins Heim. Einige Bewohner kämen aber von selbst. Auch immer mehr Anwohner solidarisierten sich. »Sie bringen Tee und fragen, wie sie den Geflüchteten helfen können«, erzählt Aktivist Jonas Baliari. Die Mahnwache wird aufgelöst, die amtierende Bezirksbürgermeisterin Dagmar Pohle (LINKE) hat jetzt eine Wohnung in unmittelbarer Umgebung versprochen. Dort soll eine Anlaufstelle für die Flüchtlinge entstehen. Und damit Normalität und Ruhe einkehren - für die Anwohner und ihre neuen Nachbarn.

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