Neben dem Leben

  • Kerstin Decker
  • Lesedauer: 6 Min.
Chemnitz - eine langweilige Stadt in der Provinz? Kulturell trifft das ganze Gegenteil zu. Mit bemerkenswerten Arbeiten startetet der Chemnitzer Theaterbetrieb in die neue Saison. Im Schauspielhaus inszenierte der neue Oberspielleiter Carsten Knödler Ibsens »Hedda Gabler« mit feinem Sinn für die Tiefe. Auf der »Ostflügel«-Studiobühne wandte Robert Czechowski sich Büchners »Leonce und Lena« zu. Und die Oper wagte sich an ein wahnwitziges Stück zeitgenössischer Musik: György Ligetis Persiflage des Jüngsten Gerichts, »Le Grand Macabre«. Das Bühnenbild dazu, dem die Kunstsammlungen Chemnitz eine Ausstellung widmen, schuf der Maler Georg Baselitz, die Kostüme John Bock.

Dass die Wolken nun schon seit drei Wochen von Osten nach Westen ziehen, macht mich ganz melancholisch, sagt Büchners Leonce. Ich hatte mich müde getanzt, erklärt Ibsens Hedda Gabler, als sie sich - oder dem Leben? oder einer Freundin? - begründen soll, warum sie ihren Mann geheiratet hat. Und fast beiläufig, beinahe unbemerkt von ihr selbst, erläutert sie ihre Stellung im Kosmos, nein, zum Kosmos: Sie könne mit Dingen, die Anforderungen an sie stellen, einfach nichts anfangen. Hat Büchners Prinz Leonce diesen Gedanken nicht immer schon gekannt?

Das Schauspiel Chemnitz eröffnet seine neue Spielzeit mit zwei Stücken, zwei Autoren, die auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun haben und sich doch urverwandt sind. Da stehen zwei, Hedda und Leonce, mehr neben dem Leben als in ihm, sind mehr außer als bei sich. Macht sie das nicht zu unseren Zeitgenossen, wenn man den Verlust aller Selbstverständlichkeiten zum Signum der Zeitgenossenschaft erklären wollte? Aus der zudem diese gewisse Gabe zur Selbstbeobachtung, zur Selbsterkenntnis also entspringt, die ein Talent, ein Privileg und eine Qual ist: der Mensch als Narziss. Willkommen bei den Brüdern und Schwestern vom unglücklichen Bewusstsein!

Der neue Chemnitzer Oberspielleiter Carsten Knödler, der einst selbst als Schauspieler auf dieser Bühne stand, hat »Hedda Gabler« inszeniert. Die bevorzugte Pose der Regisseure, die sich und der Welt noch alles beweisen wollen, ist die Distanzerklärung. Ihr liebster Aufenthaltsort befindet sich mehr über den Stücken als in ihnen. Nichts davon bei Carsten Knödler; man erschrickt beinahe vor dem Bühnenbild (Frank Heublein), das so gar keinen Ehrgeiz der Abstraktion zu kennen scheint, wo im Gegenteil in den Bücherregalen Rücken an Rücken peinlich echte Bücher stehen, denn Hedda Gabler hat zu ihrem Verdruss einen Gelehrten geheiratet. Aber stimmt das?

Die große, die Bühne beherrschende Villen-Tür ist nicht mehr durch das erklärbar, was sie zweifellos ist: Jugendstil. Nein, das ist bereits dessen Karikatur, das ist eine Tür auf Leben und Tod, gleichsam ins Existenzialistische geschwungen. Und sage keiner, diese Tür sei Zufall, sie ist vielmehr symptomatisch für Knödlers Theater: Abstraktion als Nuance! Sich ganz dem Stück überlassen und es dabei doch leise unterwandern, es beim Spielen beobachten. Was hier so beispielhaft gelingt, ist vielleicht für ein Stadttheater lebens-, überlebenswichtig: die Zuschauer nicht vor den Kopf zu stoßen, oder doch, durchaus - wozu sonst Theater? -, aber so, dass sie es nicht sofort merken, dass es nicht wehtut. Das ist die Höflichkeit, die Demut der Regie.

Knödler beginnt mit einem weitgehend neuen Ensemble: Florence Matousek ist Hedda Gabler. Sie gibt ihr eine große Kühle, eine Herablassung, wie sie annimmt, wer glaubt, das Leben - also die Menschen - durchschaut zu haben. Hätte ihr nagelneuer Ehemann die Route der Hochzeitsreise doch weniger an den Orten der wichtigsten Bibliotheken und hoffnungsvoller Archive ausrichten sollen? Aber es ist gut, dass Matouseks Hedda Gabler anscheinend mehr treibt als nur das Missgeschick einer Hochzeitsreise. Und es ist gut, dass Philipp Otto aus dem Bücher-Gatten in jedem Augenblick mehr macht als einen gelehrtenhaften Weltfremdling, der in seinem naivem Wohlwollen vor allem einer nicht gewachsen ist: seiner Frau. Tesman besitzt im Gegensatz zu Hedda Tesman, geborene Gabler, eine Welt, die Welt seiner Arbeit. Ein solcher Zufluchtsort steht ihr nicht offen, umso folgerichtiger beginnt sie ihr ebenso absichtliches wie absichtsloses Zerstörungswerk. Absichtslos: Denn ist sie nicht nur mehr eine bloße Zuschauerin des Lebens?

Unglückliche Menschen können eine große Gefahr für ihre Umwelt sein, erst recht, wenn sie nicht ertragen, das andere noch so fest ans Leben gebunden sind. Etwa die verachtete Mitschülerin von einst (wunderbar zurückgenommen und stark zugleich: Maria Schubert) durch ihre (Arbeits-) Liebe zu dem Mann, der Hedda Gabler einst umwarb und dabei fast umkam. Diesen wiederum (latent bedingungslos: Stefan Migge) stärkt seine post-Hedda-wiedergewonnene Arbeitsfähigkeit. Knödlers Ibsen überzeugt nicht zuletzt durch die Kraft, alles Beziehungstathafte in beinahe jeder Szene ins Allgemeinere, Welthaltige zu weiten.

Hedda Gabler, am Ende eine Verderberin aus Langeweile. Manche nennen das Überhandnehmen dieser Nichtantriebslage auch Nihilismus.

Ist Leonce Heddas kleiner Bruder? Kleiner ist zumindest die Chemnitzer »Ostflügel«-Studiobühne; das Stück ist es, man weiß es, keineswegs. Keine Tragödie, eine Komödie hatte Georg Büchner schreiben wollen, denn Verleger Cotta hatte in Leipzig einen Wettbewerb um »das beste ein- oder zweiaktige Lustspiel in Versen« ausgelobt. Auch durfte man anonym einsenden, was steckbrieflich Gesuchte zu schätzen wissen. Nicht nur mit der Losung »Friede den Hütten, Krieg den Palästen!« hatte der Autor Missfallen erregt. Leider traf das Manuskript zwei Tage zu spät bei Cotta ein, sodass der Absender es ungeöffnet zurückerhielt. Aber die Nachwelt hat irgendwann nie mehr aufgehört, diese Flaschenpost aus dem Reich der Unlebbarkeiten zu öffnen, so dass sich beinahe jeder einzelne der erschreckend schönen welthellsichtigen, nachtschwarzen Verse dieses Nicht-Lustspielautors tief in ihr Bewusstsein gegraben hat.

Der Pole Robert Czechowski bringt es in Chemnitz auf die Bühne; es ist sein erster Büchner. Andere haben den König zur Hauptfigur gemacht, so etwa Dimiter Gotscheff in seiner Hamburger »Leonce und Lena«-Inszenierung, und das Volk befolgte in tausend Schlafsäcken die erste Tugend des Untertans: Es ruhte. Bei Czechowski gibt Marko Bullack der regierenden Panik an der Macht - »Ich bin ich. Was halten Sie davon, Präsident?« - eine schöne Nebenrollenpräsenz, während im Hintergrund gestapelte Stroh- statt Schlafsäcke eine unüberwindliche, den Horizont verstellende Mauer bilden. Die Untertanen?

Czechowski lässt sich nicht zu Klarheiten verleiten; leider zeigt Constantin Lücke als allzu selbstverliebter Leonce nur den Narzissmus des Prinzen und unterschlägt dessen abgründige, philosophische Melancholie. Anders als Hedda Gabler lassen sich die Königskinder Leonce und Lena (mit leiser Intensität: Lysann Schläfke) nicht dazu bringen, aus Langeweile zu heiraten, verheiratet zu werden. Sie halten ihr zärtlich geliebtes Ich für viel zu kostbar, um es dem Zugriff eines Unbefugten auszuliefern. So werden sie zu Parallelfliehenden gen Süden, wo sie sich als die je einzigmögliche Ergänzung des Anderen finden.

Lieben müssen, was man flieht. Das ist der Augenblick der Komödie bei Georg Büchner, und ist dabei doch zu zart-abgründig, um es nur so zu verstehen. Hier gewinnt Robert Czechowskis Abend ein paar schöne, leise-tiefe Momente, vielleicht sind es zu wenige, aufs Ganze gesehen. Aber wer kommt so leicht auf die Höhe dieses genialen 23-Jährigen, der vor 200 Jahren geboren wurde und nach diesem Zwillingsstück des Übermuts nur noch dessen Widerruf schreiben konnte: »Woyzeck«, das Drama zweier geschundener Seelen, ohne Ausweg gen Süden, ganz ohne Fluchtmöglichkeit vor sich selbst.

Nächste Vorstellungen: »Leonce und Lena« 19.10., »Hedda Gabler« 23.10.

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